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= Erneut Scheitern

SvZ 5 / November 1989


Die »Revolution des Volkes in der DDR« ist gewiß ein Augenblick, in dem eine geschichtliche Bewegung beim aufmerksamen Beobachter eine Bewegtheit auslöst, in der das Erinnerungsvermögen selbst tätig wird. Nur so kommt Geschichte, als Emotion zunächst, überhaupt ins Bewußtsein. Das haben sich vermutlich auch diejenigen gedacht, die in den Hinterzimmern des SED-Zentralkomiteegebäudes jenen Coup vorbereiteten, mit dem sie»ihren«9. November als geschichtliches Datum setzten.

Gleichwohl ist das Datum des 9. November 1918, des Anfangspunktes eines tragischen Versagens deutscher Geschichte, durch den Freudentag des 9. November 1989, als die Berliner sich in ihrer Stadt wieder frei fühlen konnten, so leicht nicht aus der Erinnerung zu löschen.

Dies gilt auch für ein vergleichsweise minderes geschichtliches Ereignis, mit dem der Staat der SED der Untat, auf Bürger schießen zu lassen, die ihr Menschenrecht des Weggangs wahrnehmen wollten, eine weitere hinzufügte, die man bis dahin auch nur vom Staat der Nationalsozialisten kannte: die Ausbürgerung eines freiwillig gekommenen Bürgers der DDR, dessen Wort und Tun jenem Staat unverdaulich geworden war, nämlich Wolf Biermanns.

Aus diesem empörenden Anlaß heraus, der sich bis heute für niemanden in der DDR verdrängen läßt, wurde (im Rahmen eines Komitees) die folgende Skizze in einem kleinen Freundeskreis zu Papier gebracht und Namensträgern aus jenem Milieu zugänglich gemacht, dem sich dieser Kreis damals noch zugehörig dachte.

Es gab daraufhin keine Resonanz. Mag die Zeit heute für Resonanz sorgen.

David Hartstein

 

 Ausgehend von einer analytischen Skizze, wie sie in der vorläufigen Arbeitsgrundlage (des Biermann-Komitees) dargestellt wurde, muß gesagt werden, daß es zwei Formen von tödlichem Selbstbetrug gibt - und zwischen beiden oszilliert die »Linke«. Auf der einen Seite die naive Allmachtsphantasie (Lustprinzip), zu glauben, sie wäre das geschichtliche Subjekt, auf der anderen Seite der Selbstbetrug über die eigenen Fähigkeiten (Realitätsprinzip), die Unterordnung unter die »Verhältnisse«. Kinder (oder auch Greise) sind beide: das naive Kleine und das verhärmte Große. Beide sind und werden Opfer einer bewußtseinstrukturell unreflektierten (unbewältigten, unüberwindlich scheinenden) autoritären Abhängigkeit - Politik ist halt doch kein Kinderspiel.

 Widerstand ist nötig, doch nicht jeder richtig. Eine Neuauflage des 17. Juni oder des ungarischen Blutbades würde die politische Situation im Sinne »sozialdemokratischer«, d.h. kapitalistisch-imperialistischer Vorstellungen und Absichten stabilisieren; die»sowjetischen«Panzer würden nicht nur über Genossen und revolutionäre Illusionen hinwegwalzen, sondern auch über die ganze revolutionäre Weltbewegung - über eine geschichtliche Bewegung! Denkt an den Spartakus-«Aufstand«!

 Aber selbst darauf müssen wir gefaßt sein, müssen schon heute die Wissenschaft zur Waffe machen, damit es nur ein Pyrrhussieg der Reaktion werden kann. Wenn ein Schiff sinkt, nützt der Gang zum Kapitän, ob er nun Schmidt, Brandt oder Carter heißt, nichts mehr. Mit weiteren Metaphern will ich den Leser nicht davon abhalten, endlich zu begreifen, daß er schwimmen muß, wo uns das Wasser bis zum Halse steht. Da wir aber nicht richtig schwimmen können, müssen wir es lernen, denn: die Rettungsboote, die traditionellen Arbeiterorganisationen, sind leck und verfault. Individuen sind gefordert, sich, einander zu verändern. Um sich und die Verhältnisse verändern zu können, muß sich die Linke gemäß der dialektischen Methode ihres Lieblingsspielzeugs enteignen, des »Marxismus« als einer überholten Revolutionssoziologie.

 Wolf Biermann ist ein Anachronismus, wie die bestehenden Systeme selbst. Wie die heutige»Linke«. Ein integrierter Außenseiter, wie Willy Brandt und Willi Stoph. Jemand, der gegen die rote Barbarei ankämpft, weil er mit seinen Sinnen wahrnimmt, daß man so nicht leben kann. Der aber den Kopf voll hat von alten Schablonen aus der Mottenkiste der untergegangenen Schule der Arbeiterbewegung. Solche überlieferten Lehrmeinungen sind bloße Leermeinungen geworden, aus denen nur Handlungsstrukturen erwachsen können, die allemal Selbstbetrug sind. Was Wolf sagt, könnte jeder sagen. Nur - warum sagt es nicht jeder? Das ist die wichtigste Frage. Er wirkt allein durch sein zur Schau gestelltes Beispiel, als ein Mensch, der leben will und lieben will. Der dies deutlich machen kann, der zeigt, daß er Menschen gern hat. Der unmittelbar zärtlich ist. Und dem die Herzen zufliegen, weil jeder sagt: so möchte ich auch mal sein. Diesem Gefühl können sich selbst die Bürokraten nicht entziehen; auch sie würden gern einmal (vielleicht vor dem Palast der Republik) als so ein frecher Lausbub auf der Bühne stehn, dem die»Herzen gehören«. Ein Kind sein, das alle mögen, weil es ja niemandem etwas tut, keinem etwas wegnimmt...

 Expropriiert die Expropriateure!

 Wie enteignet denn Biermann die atlantischen Finanzkapitalisten und -imperialisten? Wie denn die aufs Haben begierigen westdeutschen Arbeiter und Akademiker, den kapitalistischen Konsumenten und Kleinbesitzer? Biermann übt keine konstruktive Kritik an denen, die die geschichtlich notwendige Aufgabe der Expropriation zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben. Er stellt die Genossen Bürokraten bloß, ohne zu sagen, wie denn das Privateigentum als Daseins- und Bewußtseinsstruktur beseitigt werden kann. Das ist der Doppelcharakter (»Januskopf«) von Biermanns Wirkung: er lebt als Antithese zum zweiten Schritt, als Antithese zum »Sozialismus«, ohne sich selbst und anderen klarmachen zu können, daß der erste Schritt erst noch getan werden muß, der nächste Schritt: die Weltrevolution. Daß erst dann der »Sozialismus aufgebaut« werden kann. Alles andere ist Narretei - Schizophrenie. Biermann verharrt in seiner öffentlichen Pose als Antithese der stalinistischen Ideologie des »Sozialismus in einem Lande«und ist damit zugleich Propagandist und Opfer des Stalinismus bzw. seiner Zweifaltigkeitslehre des »Marxismus-Leninismus«. So wird auch er zum Werkzeug einer antistalinistischen Kritik, die mit der Kritik des Stalinismus zugleich die Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft überhaupt empirisch, »praktisch-kritisch« negieren will.

 Sozialdemokratisches Bewußtsein, das zu einem solchen Werkzeug als letztem Auskunftsmittel über die eigene Janusköpfigkeit so gern seine Zuflucht nimmt, ist dann nichts weiter als Verwaltungsbeamtenmentalität: etwas, was da ist, die Verhältnisse bestmöglich und gerecht zu verwalten.

 Doch neue Menschen werden und schaffen, das können und wollen die nicht.»Unsereins«, sagte Brandt bei seiner Wahl zum Präsidenten der Sozialistischen Internationale, habe längst »der törichten Utopie entsagt, den neuen Menschen formen zu wollen«. Es gehe vielmehr darum,»daß der Mensch und die Menschlichkeit überleben«.

  Die Kommunisten sind seit Brest-Litowsk auf halbem Wege steckengeblieben. Wissen nicht, wie es weitergehen soll mit dem »weltrevolutionären Prozeß«, weil es im Westen mit der Revolution nicht vorangeht. - Als ob die »Revolution« im Osten eh schon mit Siebenmeilenstiefeln voranschritte. Sie sind geschichtlich und strukturell in der gleichen Zwangslage wie die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution und den Erpressungen der deutschen Heeresleitung an der Ostfront. Nur: damals begriffen sie noch, daß der Fortgang der Revolution in Rußland von der Fortpflanzung der umwälzenden Bewegung nach Westen abhing und stellten ihr Handeln darauf ein. Damals wie heute steht solcher Fortbewegung das Bollwerk des sozialdemokratischen »Bewußtseins« entgegen: die Illusion des kapitalistischen Sozialstaates.

 Wer die Fortbewegung nicht allein der »Revolution«, sondern der Geschichte wirklich und wirksam will, muß offensiv werden! Doch die »Kommunisten« können es nicht, weil solchem sich und andere In- Bewegung-Setzen die Schranke des Interpretationssystems der sozialistischen Defensive (der »Marxismus-Leninismus«) im Wege steht und zu Kopfe steigt:

 die stalinistische »Philosophie«, Psychologie, die stalinistische Ökonomie. Eine Vorstellung menschlichen Lebens (Gesellschaft, Menschenbild), das aus der Empirie der Sowjetunion heraus gebildet wurde. Und woher sollten die Vorstellungen auch sonst kommen? Aus der Materie? War vorher dem dämlichen Muschik durch Vermittlung des Popen sein Bild vom Menschen vom Himmel herab gegeben worden, so gedieh es ihm (und wurde ihm verordnet) unter Stalin und danach aus der Erde Rußlands.

 Die SED-und DKP-Genossen reagieren wie Konservative, die ja auch jegliche Form von Veränderung als Bedrohung empfinden. Sie, die die »Bewahrung« des sozialistischen Besitzstandes zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, verhalten sich wie Besitzbürger, wie Leute, die viel zu verlieren haben, was kraft (geschichtlichen?) Rechtes ihr Eigenstes geworden ist. Aber Revolutionäre, wir, haben die Welt zu gewinnen und erst damit Menschlichkeit. Das ist die Wahrheit: auf der einen Seite die Trauer über die Barbarei in West und Ost, und doch ist zugleich der Sozialismus die einzige Hoffnung für Ost wie West. Die DDR, das bessere, das»neue Deutschland«? Nein - so nicht! Ein »rotes« Deutschland, ja durchaus. Die DDR ist (wie der ganze »Ostblock«) eine rotes Armee- und Arbeitslager, das die militärische Absicherung dessen abgeben kann, was die Ideologen der »kommunistischen Weltbewegung« weltrevolutionären Prozeß nennen - und was mit Bürgerkrieg wenig, mit der Gefahr eines Dritten Weltkrieges alles zu tun hat. Sie werden es tun müssen, soll die Menschheit noch eine Chance haben.

 Die Fabel vom friedlichen Wettstreit der »Systeme«, von friedlicher Koexistenz, ist ein verführerisches und gefährliches Märchen von Väterchen Stalin. Lullt sie doch ein in die trügerische Wunsch-Vorstellung einer autonomen Entwicklung des sozialistischen »Lagers«. Unsinn!

 Spätestens seit Hitlers Machtergreifung, insbesondere aber nach dem Zweiten Weltkrieg diktierte der Rüstungskapitalismus Gang und Tempo der Entwicklung des sowjetischen Rüstungssozialismus, ohne der sowjetischen Wirtschaft je eine Möglichkeit zu lassen, sich zu etwas anderem zu entwickeln und zu erstarren als zu einer bürokratischen Staatswirtschaft. Dies mit der Folge einer verheerenden Hemmung der sozialökonomischen Entwicklung des gesamten Ostblocks nach dem Kriege; der überwiegende Teil des gesellschaftlichen Mehrproduktes mußte in Rüstung investiert werden!

 »Überholen ohne einzuholen« - das eignete sich immer nur zum Thema zynischer Witze.

 Erschreckend aber ist die »Systemkonvergenz« in Bezug auf die (klein-)bürgerliche Perpetuierung von Staat und Familie, die Marx beide als falschen Schein von Gemeinschaftlichkeit begriffen hat. Die Allgegenwart kleinbürgerlich-privater Bewußtseins- und Verhaltensstrukturen, im kommunistischen ganz wie im sozialdemokratischen Bereich ist die Hauptschranke für die Herausbildung der Weltgesellschaft. Das Hauptproblem ist keineswegs mehr die »Bourgeoisie«, sondern das kleinbürgerliche Bewußtsein in jedem Einzelnen, hüben wie drüben, das Geld- und Geltungs-Denken der sparenden und »verdrängenden« Klasse, wie einerseits von Sohn-Rethel analytisch und von Enzensberger (wie immer glänzend) feuilletonistisch dargetan. Es ist die familiare, selten »familiäre« Bewußtseinsstruktur, das Privateigentumsdenken und das privat-eigentümliche Erleben - die heilige Familie der römischen, nicht der Menschengeschichte. Sie hat ihr allgemeines, öffentliches Äquivalent im Staatsdiener-Bewußtsein: Alles eher Bewußtseinsstrukturen einer »feudalen Idylle« denn bürgerliche. Schon gar nicht aber die von freien (Lohn-)Arbeitern. Fehlt aber das Bewußtsein freier Lohnarbeiter von sich selbst, so kann die Marxsche Soziologie der Revolution keine Anwendung finden, läßt sich nicht aufrechterhalten, was in den Köpfen der »Linken« zur Eschatologie geworden ist statt zu lebendiger Wirklichkeit; das überlieferte Konzept der revolutionären Arbeiterklasse.

 Es wäre denkbar, daß ein System eines Staatskapitalismus (>Globalsteuerung<) und eines strukturell ähnlichen Staatssozialismus sich in Ermangelung eines revolutionären Prozesses unter und zwischen den Menschen, welcher sich aus dem Reproduktionsprozeß der (welt-) gesellschaftlichen Arbeit selbst entwickelt, logisch-dynamisch ( - nicht sozial! - ) unter den Bedingungen buchgeld-kapitalistischer Selbstverzehrung beliebig lange fortbestehen können. Kurz: ein System ohne Gesellschaftlichkeit, bestehend aus Beamten und kapitalisierten oder verstaatlichten »Arbeitern«, die sich wechselseitig und arbeitsteilig verwalten. Niemals jedoch»verwalten« Einzelne oder Gruppen sich selbst.

  Hier stellen sich die Fragen von Gesellschaft  - System - Volk - Klasse - Familie - Individuum völlig neu. Das sind nur Hinweise auf die Schwierigkeit, die heutige Situation zu analysieren. Dazu einige Thesen:

 
1.In der DDR ist ein »subversives« Potential vorhanden, das aufgrund der Konzeptionslosigkeit der bewegenden und bewegten Köpfe sozialdemokratische Züge trägt.
2.Die SED kann diesem Potential nur Repression entgegensetzen, weil sie als Staatspartei und »Vorhut«-Partei zugleich stalinistischen und bürgerlichen Denkstrukturen verhaftet ist.
3.Die SPD war und ist antirevolutionär (»...hasse die Revolution wie die Sünde...«), da sie kleinbürgerlichen und (sozial-)staatskapitalistischen Vorstellungen anhängt. (Vgl Kommunistisches Manifest, Der konservative oder Bourgeois-Sozialismus - eine Vorahnung der Fabian Society, die sich auch sogleich ein Jahr nach Marx` Tod aus der Taufe hob.) Wobei der Antikommunismus der Sozialdemokratie aus dem Zwiespalt zwischen Besitzanspruch auf den besten Sozialismus aller Zeiten im Kopf und dem Neid auf die Tat der Bolschewiki herrührt, weil jene sich zutrauten, was die sozialdemokratische Beamten- und Krämerseele, die träge Seele sozialdemokratischen Funktionierens unter den obwaltenden Umständen nie vermochte: die Überwindung des Kapitalismus.
4.Absurd sind Vorstellungen eines gesamtdeutschen Sozialismus in der wiedervereinigten Nation, wie sie in der SPD auftauchen (Viertes Reich?). Auf die strukturelle Analogie sozialdemokratischer und nationalsozialistischer Ökonomie und Gesellschaftsverfassung sowie die damit einhergehende Soziologie und psychische Struktur haben Sohn-Rethel (aus unmittelbarer Anschauung) sowie Reich, Rühle und Horkheimer hingewiesen.
5.Keine der bestehenden sozialistischen Organisationen der »Linken« wie der traditionellen Arbeiterbewegung kann konzeptionell und praktisch-kritisch das beschriebene Dilemma aus sich selbst heraus überwinden.

 Abstrakte Darlegungen und Deklamationen helfen da nicht weiter. Sektiererischer Eifer noch weniger. Die BRD braucht keine KP. Hier irrt Biermann. Ebenso gehören klassenmechanistische Vorstellungen in die Mottenkiste.

 Die imaginäre »Bourgeoisie«, dieses Phantom, dem alle Kleinbürger nachzuäffen trachten, dient hauptsächlich der Linken zur Rechtfertigung ihrer Kleinmütigkeit und -bürgerlichkeit. Ich sehe nur arme und reiche Kleinbürger: von Lieschen Müller bis Hermann Josef Abs. Solche Kleinbürgerlichkeit ist gebunden an Familiarität, an den Ehe-Staats-Vertrag mit Einsamkeit in Zweisamkeit, an privaten Besitz an Menschen (Partner, Kinder), an Erbrecht usw... Ist gebunden an kleinbürgerliche Vorstellungen von »Persönlichkeit«, von einem privaten Eigentum am»Selbst« - womit wahrscheinlich das private Eigentum an kleinbürgerlicher Psychopathie: dem ständigen Feilschen um das »Gefühl« des eigenen Selbstwertes gemeint ist. Es sind allemal narzißtische, wahnhafte Vorstellungen von »Subjektivität«. Allmachtswünsche und -phantasien eines wirklicher Einwirkung unfähigen kleinbürgerlichen ICHs. Dieses ICH und sein Allerweltsprädikat, - sein veräußerbares »Adels«-Prädikat: Geld und Geltung -»regieren« die Welt...

 Eine fällige (sozialistische) Neuordnung der Welt kann nur ein Mittel, ein Werkzeug (der Bedingungsrahmen) zur Hervorbringung der menschlichen Gemeinschaft-lichkeit schöpferisch (produktiv) tätiger Individuen sein. Ein solches Gefühl, eine Ahnung von Gemeinschaft-lichkeit konnte Wolf uns für kurze Zeit eingeben.
Der Mensch muß eine Einheit aus Denken, Fühlen, Handeln sein; und die Menschheit muß eine Einheit: Menschheit werden.

 Der Aufruf »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch« gilt so nicht mehr. Das zugrundeliegende Konzept einer proletarischen Weltrevolution wurde zunichte gemacht durch die kleinlich berechende und feige Denkweise der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten - am 4. August 1914.

 Rosa Luxemburgs Einschätzung traf zu:

 »Dieser Weltkrieg - das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur, sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges, und endgültig, wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg.« (Rosa Luxemburg, >Die Krise der Sozialdemokratie<.)

 Die Barbarei hat gesiegt: der erste Weltkrieg war der Beginn der grausamsten Kriege überhaupt. Was damals Proletarier sich Mann gegen Mann angetan haben, ist unvorstellbar geworden. - Nein, das stimmt nicht. Im Gegenteil, es ist unser Alltag geworden: der Verlust von Mit-Menschlichkeit. Auschwitz ist nur ein Beispiel für eine amoklaufende Organisationsform der Logik des Kapitals; die heutige Gruppendynamik verwirklicht Sklavenarbeit weit eleganter.

 In der Barbarei wird der überlieferte Klassenbegriff obsolet. Theoretisch ausgedrückt: die arbeitende Klasse wurde 1914 von Sozialdemokratie und Militärdiktatur verstaatlicht. Das ist auch eine Erfahrung der Studentenbewegung: die Klassentheorie erwies sich praktisch als spaltend und lähmend. Systemtheorie als Sozialtechnik und wissenschaftliche Empathie als Psychotechnik stellen den wissenschaftlichen Reflex auf die Gespaltenheit einer Un-Gesellschaft in ein sich selbst steuerndes sozioökonomisches System und atomisierte Einzelne dar, in denen sich diese Zerrissenheit in Gestalt schizophrenen Alltagsbewußtseins (bis hin zu klinischen Formen) noch einmal erzeugt und »Reproduktion« so »bewußt« ermöglicht. Auch die Praxis der kommunistischen Parteien wie der Sozialdemokratie ist Ausdruck unbewußten Bemühens, diese Un-Gesellschaft aus Staat und verstaatlichten Einzelnen (»Sozialisations«-Prozeß = Verstaatlichung) durch Techniken von Verwaltung und Selbst-Verwaltung (d.h. Konditionierung und Selbst-Konditionierung) aufrechtzuerhalten.

 Steuerungsmechanismus des heutigen menschlichen Verhaltens ist nicht bewußte und tätige Zuneigung, sondern unbewußte und so energisch wie passiv verhaltene und verhohlene Angstverminderung.

Die Sozialdemokratie will den »Menschen« (wie Willy Brandt eingestand) nicht ändern; - die Kommunisten können es nicht. Wir müssen!

  Weltprozeß und Individuen können nur unter Verlust von Menschlichkeit voneinander getrennt werden. Auch der Kommunist Sève hat das erkannt. Aber man kann die »sozialistische Persönlichkeit« nicht bloß erdenken. Auch dem Philosophen der »liberal re-education«Habermas ist es seit fünf Jahren nicht gelungen, die »kommunikative Kompetenz« des Weltbürgers am Schreibtisch abzuleiten.

  »Sozialistische Persönlichkeit« (wahre Individualität) muß erdacht, erfühlt und erkämpft werden - gemeinschaftlich! Hier muß »Strategiediskussion« ansetzen; muß fragen, welche Prozesse, welches Geschehen menschlicher Gemeinschaftlichkeit (Gemeinsamkeit) wahrgenommen werden können, wie aus der Immanenz des Bestehenden die Produktivkräfte von Menschlichkeit, menschliche Produktivkräfte weiterentwickelt werden können - und jeweils aktuell klären, wie das Verhältnis von nicht-institutionellem zu institutionellem, von individuellem zu organisierten Kampf zu bestimmen ist.

 Die weltrevolutionäre und die unmittelbar zwischenmenschliche Praxis sind nur um den Preis lebens- und weltgeschichtlichen Scheiterns voneinander zu trennen. Das gilt für alle Teilkämpfe: angefangen beim Geschlechterkampf, über innerbetrieblichen und gewerkschaftlichen Konkurrenzkampf bis hin zu nationalistischen und System-Konkurrenz-»Kämpfen«.

 Denn wir wollen eine Welt, in der, wie Rosa  Luxemburg sagte, »... wir alle guten Gewissens lieben können, auch um den Preis, hassen zu müssen, um dieses Ziel zu erreichen.«

 
Arbeitende aller Länder, es kommt darauf an, Euch selbst zu verändern!