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35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
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Kalter Krieg

 

Zwischen Breschnew und Brzezinski

 

Von David Hartstein

(In Studien von Zeitfragen, Januar 1978)

 

Zehn Jahre nach den ersten Knospen des Prager Frühlings hat die sozialistische Opposition im Ostblock zu sich selbst gefunden - zu Marx und Luxemburg. Nicht nur Herbert Wehner hat auf einen solchen geschichtlichen Einschnitt gewartet. Es kann nicht klarer und eindringlicher herausgestellt werden als so:

130 Jahre nach dem ersten Versuch 1848, 60 Jahre nach dem zweiten von 1918 ist von deutschen Kommunisten wieder die Losung der einigen, unteilbaren demokratischen Republik ausgegeben worden. Die Losung der sozialistischen Republik wird zur nächsten Aufgabe erklärt wie 1918. Mit einigen der vom „Bund Demokratischer Kommunisten Deutschlands“ vorgebrachten Leitsätze kann die deutsche Arbeiterbewegung wieder an ein Programm anknüpfen, das bei den herrschenden Gewalten, nicht nur in Deutschland, seit 1919 verhaßt und bei den Verwaltern des internationalen Kommunismus in Moskau seit spätestens 1924 verfemt war: das Programm des Spartakusbundes, der deutschen kommunistischen Partei.

Es gibt auch im westlichen Teil Deutschlands zahlreiche Sozialisten, die sich in ihrer politischen Tätigkeit von diesem Programm leiten lassen und auf den Augenblick gewartet haben, da die späte Veröffentlichung der Schriften Rosa Luxemburgs in der DDR die unausbleiblichen Wirkungen zeitigt. Ebenso gibt es aber auch im westlichen Teil Deutschlands, im westlichen Teil der Welt eine Anzahl von klugen, vor allem aber mächtigen Leuten, die ein Ereignis solcher Art durchaus nicht mit heller Begeisterung begrüßen werden. Vorkämpfer demokratischen „Wandels“ in Osteuropa sind jetzt nicht mehr die tapferen Oppositionellen in der CSSR, in Polen und auch in der SU, nicht mehr die „wagemutigen“ Demokraten und „Streiter für Menschenrechte“, die sich bislang immer den Beschränkungen und Beschränktheiten der veröffentlichten Meinung und Propaganda im Westen anzupassen hatten, wollten sie den ideologischen Widerhall und die gesellschaftliche Kraft erlangen, die nur das Medium des mitteleuropäischen Äthers gewährleisten kann.

Etwas Entscheidendes hat sich geändert: der Kampf um „menschlichen Sozialismus“ im Machtbereich des russischen Imperiums braucht von nun an nicht länger mehr mit den Schlagworten eines polnischen Aristokratensprößlings, er kann mit Gedanken, Losungen und vor allem nach dem Vorbild einer polnischen Sozialistin geführt werden. Das Vorbild Rosa Luxemburgs ist aber alles andere als „subversiv“ oder gar „konterrevolutionär“. Alles, was sich gegen sozialistische Opposition im Geiste Luxemburgs sagen läßt, ist - daß es die politische Polizei nicht erlaubt. Derlei Einwände haben aber in der deutschen Geschichte schon viel zu lange ihr drückendes Gewicht auf den Köpfen der Deutschen ruhen lassen. Die Genossen in der SED, die Genossen des „BDKD“, ihre Vorläufer Havemann und Bahro bewiesen und beweisen den beispielhaften Mut, das „Argument“ der Polizei nicht mehr gelten zu lassen.

Freilich ein Geisteswandel und ein gesellschaftlicher Wandel, den sich Herr Brzezinski so gewiß nicht gewünscht hat: Vierzig Jahre nach Stalins und Hitlers Verbrechen sind in und für die deutsche Arbeiterbewegung die Gedanken und Ziele von Marx und Luxemburg wieder klar und deutlich ausgesprochen worden - wenn auch nur auf den Seiten eines Zerr-Spiegels. Für Demokratie und Menschenrechte brauchen der US-Sicherheitsberater und seine Anhänger in Ost und West jetzt nicht mehr die schwere Last der Verantwortung und Propaganda zu tragen. Das tun demokratische Kommunisten in der DDR jetzt selber. So wenig, wie die Menschenrechtsdoktrin der gegenwärtigen US-amerikanischen Politik dazu geeignet ist, die Vereinigten Staaten von Nordamerika im Rahmen der Weltgemeinschaft in eine glaubwürdige Hegemonialstellung wiedereinzusetzen, so wenig taugen auch die in der „Trilateralen Kommission“ versammelten „Globalstrategen“ irgendwie dazu, die Menschenrechte auf dem ganzen Erdball zu verwirklichen. Ob sie sich, wie ein Kissinger, zur „Realpolitik“ bekennen oder zu dem, was Brzezinski als Synthese aus „Realpolitik“ und „planetarischem Humanismus“ vorschweben mag, einerlei: diese wahrhaft „planetarische“ Aufgabe fällt weder „Trilateralen“ noch dem „Club of Rome“, noch sonst irgendwelchen Ausschüssen für internationale Politik zu; sie kann einzig und allein, soll sie Aussicht auf Erfolg haben, der internationalen Arbeiterbewegung als Richtpunkt gelten: ›Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!‹

Hier richtet sich sogleich das Augenmerk der  internationalen Öffentlichkeit auf die Sozialistische Internationale und auf die deutsche Sozialdemokratie. Niemals seit der Preisgabe des „Deutschlandplanes“ ist die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Partei, Gewerkschaften und Parlamentsfraktion) so auf die Probe gestellt worden wie mit dem „Deutschlandplan“ der demokratischen Kommunisten in der DDR.

Gewiß, die demokratischen Sozialisten diesseits der Mauer haben es nicht in der Hand, irgendeinen nennenswerten Beitrag zur Legalisierung einer kommunistischen oder sozialistischen Opposition im andern Teil Deutschlands - jenseits der Mauer - zu leisten. Auch wird niemand von ihnen erwarten, daß sie sich auf die Plattform eines Rudolf Bahro und seiner sich zusammenfindenden Gesinnungsgenossen stellen. Gleichermassen wird der „Secretaire General de Prusse“ Erich Honecker, im Innern des Landes notgedrungen die Staatssicherheit walten lassen müssen. Letztlich werden Suslow, Breschnew und deren Staatshalter in der DDR den rechtschaffenen Verwalter noch mehr in den Würgegriff nehmen, sollte gegen die Berührungsangst gegenüber demokratischem Kommunismus genauso wenig Kraut gewachsen sein wie gegenüber dem „Sozialdemokratismus“. Folglich wird also niemand erwarten, daß die deutschlandpolitischen und ostpolitischen Unterhändler der SPD sich etwa mit einer Plattform wie der des ›BDKD‹ solidarisieren; schließlich sind sie ja auch ›Realpolitiker‹ .

Doch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die demokratischen Sozialisten in der Sozialistischen Internationale müssen umdenken. Was demokratische Kommunisten drüben gefordert haben: die Wiederherstellung einer einheitlichen deutschen Arbeiterklasse - das gilt auch für Europa insgesamt, namentlich für Westeuropa, die Wiederherstellung einer einheitlichen europäischen Arbeiterbewegung aus Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten und Christen.

Niemals seit 1921 war die Zeit so reif für die Überwindung der  tragischen Spaltung der Arbeiterklasse Europas, mit der Lenin und die Führung der Komintern die falschen Schlußfolgerungen aus dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale am Vorabend des Ersten Weltkrieges und dem nicht „zurechnungsfähigen“ Bewußtseinszustand der sozialdemokratisch geleiteten Arbeiterbewegung in der deutschen Revolution gezogen haben. Die Zeit dafür ist reif und die Zeit drängt!

Nur auf einem Wege, nur auf einem Feld können Westeuropas Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten und Christen die Arbeiteropposition in Osteuropa wirksam und „realpolitisch“ unterstützen: wenn sie die ihnen gemeinsam gestellten Aufgaben  in Angriff nehmen und Iösen. Bisher noch wird die internationale Politik, wird die Dynamik  der weltpolitischen Entwicklung in Washington und Moskau bestimmt - von Breschnew und Brzezinski. Sie muß künftig von Westeuropa aus, von einer unabhängig und einiger werdenden  Arbeiterbewegung Westeuropa bestimmt werden. Die europäische Arbeiterbewegung - mit Einschluß auch der französischen Kommunisten - muß zu einer Zusammenarbeit bei den wichtigsten vor ihr stehenden Aufgaben kommen: Friedenspolitik und Abrüstung, Überwindung der Weltwirtschaftskrise und bei der Schaffung des Vereinigten (West-)Europa. In einem solchen demokratisch fundierten Westeuropa kann der westdeutsche Teilstaat auch ohne ›Wiedervereinigung‹ gegenüber der DDR eine Funktion wahrnehmen, wie sie der ›Deutschlandplan‹ des ›BDKD‹ vorsieht.

Zu fordern, daß die politischen Vertreter der Arbeiterbewegung Westeuropas die zukünftige politische Entwicklung bestimmen sollen, zieht aber noch eine andere, schwerer wiegende Schlußfolgerung nach sich. Eine solche Forderung bedeutet nichts Geringeres, als daß der internationale demokratische Sozialismus in Deutschland wie in Westeuropa die Führung in der internationalen Politik wiedererringen muß - so, wie er sie vom Ende des Jahres 1972 bis zum Oktoberkrieg 1973 zeitweilig innegehabt hat. Es gilt heute, einen entscheidenden Vorstoß zum Neuen Beginnen zu wagen und einen entscheidenden Schritt zu einem Europa ›jenseits des Kapitalismus‹ zu gehen.

Die europäische Sozialdemokratie, insbesondere die SPD, hat sich schon allzulange mit ihrer Rolle abgefunden, linker Flügel der „Weltdemokratie“ zu sein. Zu lange schon hat sie sich damit begnügt, sozialdemokratisches Korrektiv in einer vom Dollar-Finanzkapital beherrschten westlichen Gesellschaft zu sein. Aus dieser ihr zugewiesenen und bereitwillig angenommenen Rolle wird sie schwerlich von heute auf morgen herauswachsen können. Einige in der Führung der Sozialistischen Internationale fühlen sich auch in einer solchen Rolle ganz heimisch.

Dennoch ist ein rasches und gründliches Umdenken und Überdenken dieser Funktion dringend geboten; vor allem auch wegen der Ereignisse, die sich derzeit in den Vereinigten Staaten von Amerika abspielen. Und hier fällt allerdings die Verantwortung vor allem der SPD-Führung zu:

 

Wir wissen es mittlerweile alle: Die Spaltung Deutschlands war nur das späte Ergebnis einer lange zuvor vollzogenen und durch Nationalsozialismus, Weltkrieg und alliierte ›Real‹-Politik nach dem Kriege vertieften und bis zum Wahnsinn des Mauerbaus verschärften Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in einen bolschewistisch-stalinistischen und einen sozialdemokratischen Teil. Mauerbau und Schießbefehl sind späte perverse, barbarische Ausgeburten dessen, was im Gefolge des Ersten Weltkrieges, der Oktoberrevolution in Rußland und der Novemberrevolution mit der deutschen Arbeiterbewegung und mit Deutschland geschehen ist.

Gegen Ende des letzten Weltkrieges und danach ergriff Churchill, der ›Real‹-politiker, der immer dabei war, die Gunst der Stunde, die ihm ein Stalin ermöglicht hat, und wandte mit seiner Entdeckung des „Eisernen Vorhangs“ - einer historisch-klassischen ›self-fulfilling prophecy‹ - auf Deutschland und seine arbeitende Klasse das Herrschaftsprinzip an, was für seine ›britisch-atlantische‹ Zivilisation das sine qua non war: Divide et Impera!

 

Was blieb später Adenauer und dem bürgerlichen Deutschland anderes übrig, als sich zu schicken in die Möglichkeiten. die ein westdeutscher Staat vorfand, sollte dieser Staat irgend souverän werden und dabei dennoch bürgerlich bleiben? Christliche und liberale Konservative, klassenbewußt, wie sie nun einmal waren, mußten das selbstbetrügerische Spiel um Deutschland mitspielen - und die Teilung vertiefen.

Was andererseits blieb der Sozialdemokratie schließlich übrig, als den gesellschaftlichen und politisch-militärischen Status Quo in Europa anzuerkennen? Um einmal zur Macht zu gelangen, um in der westdeutschen Demokratie in die Regierung zu gelangen, bedurfte es eines gerüttelten Maßes an ›real‹-politischer und taktischer Anpassung. In der nationalen und sozialen Frage hat die Sozialdemokratie zwar fast immer recht gehabt, doch hat sie von Westdeutschlands Wählern erst zwanzig Jahre später Recht bekommen - und Macht. Um aber Recht zu bekommen, hat sie unterdessen einen hohen - zu hohen - Preis bezahlt: sie hat so getan, als hätten die andern Recht gehabt. Mit solcher Mimikry muß es ein Ende haben.

 

Wenn das Gespenst des ›Eurokommunismus‹ je einen geschichtlich bedeutsamen und wirksamen Ideengehalt gehabt haben und haben soll, dann nur diesen: die Kommunisten haben den demokratischen Machterwerb als einzig gangbaren Weg zu sozialer und sozialistischer Demokratie erkannt und anerkannt! Wenn, damit einhergehend, allmählich auch die Mythen und Illusionen, deren Quelle die „Sowjetunion“ in der bisherigen Geschichte immer wieder gewesen ist, genauso hinfällig werden wie diejenigen der ›Komintern‹; wenn sich die kommunistischen Parteien allmählich der Tatsache bewußt werden, daß ihre Organisationen und das, was sie in Bewegung setzen, nicht Teil des „Sozialistischen Lagers“, sondern ihrer jeweiligen bürgerlichen Gesellschaft und des jeweiligen kapitalistisch-demokratischen Staates sind; wenn sie nach diesen Einsichten zu handeln beginnen, dann sind einige wesentliche Voraussetzungen für einen Neuanfang gegeben.

Wenn also die Idee des Eurokommunismus, ganz gleich, wer das Wort selbst geprägt haben mag, sich mehr und mehr als der eigentliche, der ›demokratische‹ Kommunismus herausstellt und von allen Beteiligten herausgearbeitet wird; wenn schließlich die grundlegenden Vorstellungen von sozialistischer und Arbeiterdemokratie in diesem Jahrhundert, die Gedanken von Luxemburg und Trotzki allmählich Anklang finden in der breiten kommunistischen Bewegung; wenn sich also Kommunisten, aber eben auch Sozialdemokraten, Sozialisten und Christen darauf besinnen, daß Sozialismus und Demokratie weder theoretisch noch praktisch auseinandergerissen werden können, dann kann und muß auch von den demokratischen Sozialisten Westeuropas der Weg zur Neuvereinigung der europäischen Arbeiterbewegung beschritten werden - der Weg über Godesberg hinaus. Kurz: 50 Jahre nach der Entstehung des Gedankens von einem Neu Beginnen kann heute mit der Verwirklichung des Neubeginns praktisch angefangen werden.

 

Doch nicht allein die einzelnen Abschnitte jener Entwicklung sind dafür maßgeblich, welche zur Ablösung der kommunistischen Bewegung in West- und Osteuropa (einschließlich der KPdSU selber) vom Bolschewismus-Byzantinismus Moskaus führen, wie die Berliner Konferenz, das gemeinsame Kommuniqué der Parteien in Madrid, die Veröffentlichung der eurokommunistischen Thesen in der DDR und jetzt die Entstehung eines ›BDKD‹. Von weit größerer Bedeutung für demokratische Sozialisten im Westen ist vielmehr, was sich zur Zeit im Machtzentrum der USA zuträgt.

Die 1951 in Frankfurt neugegründete Sozialistische Internationale hatte es sich unter Anleitung der britischen Labour-Führung zur Maxime gemacht, sich in der internationalen Politik an die Demokratische Partei in den USA, an die Partei des ›New Deal‹ anzulehnen. Nach langem Widerstreben sah sich auch die Führung der deutschen Sozialdemokratie zu einer solchen Bündnispolitik gezwungen, um, mit den Worten Fritz Erlers, „beim US-amerikanischen Finanzkapital hoffähig zu werden“.

Dieses Bündnis mit dem ›linken‹ Flügel der Democratic Party, den ›Americans for Democratic Action‹, haben die Verantwortlichen in der Sozialistischen Internationale bis heute wie der getreue Eckehart eingehalten. Noch Anfang letzten Jahres ließ es sich ein namhafter, in internationalen Angelegenheiten eingeweihter Sprecher des demokratischen Sozialismus, ehedem Vorsitzender der Jungsozialisten, nicht nehmen, einem solchen Protagonisten des ›linken‹ Flügels der Democratic Party Glückwünsche auszusprechen - zu seiner eben erst erfolgten Ernennung zum Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten. Eine recht unzeitgemäß anmutende Geste, aber vielleicht beeindruckte unseren wackeren Ex-Juso, daß Mondale auf den so deutschfreundlichen Spitznamen ›Fritz‹ hört.

Von Sozialisten in der BRD und in der Europäischen Gemeinschaft muß heute ernsthaft die Frage aufgeworfen werden, ob es nicht endlich an der Zeit ist, dieses merkwürdige Bündnis aufzulösen und im Rahmen der Sozialistischen Internationale einen anderen, selbständigeren Weg zu gehen. Denn die Zielsetzungen dieser Gruppierung der amerikanischen Demokraten und der hinter ihnen stehenden gesellschaftlichen Kräfte und Interessen erweisen sich immer mehr als untauglich für die europäische Arbeiterbewegung, wenn nicht gar als gefährlich.

Dabei läßt sich ihnen noch am wenigsten vorwerfen, daß sie dem Verfall des Dollars mit einer zynischen Verantwortungslosigkeit zusehen, wie man sie selbst unter Nixon nicht erlebt hat. Weit schwerer wiegt jedoch - schwerer noch als ihre protektionistischen Ambitionen, ihre verantwortungslose internationale Wirtschafts- und Währungspolitik - der Tatbestand, welche Wirtschafts- und Währungspolitik, welche Gesellschaftspolitik sie in den Vereinigten Staaten selbst anstreben! Was immer sie mit einer Art Neuauflage des New Deal unter den heutigen Bedingungen in den USA im Sinne haben mögen, jene Kräfte in der US-amerikanischen Administration und auch in der Demokratischen Partei sind gegenwärtig an einem Punkt angelangt, wo sie die inflationäre Geldpolitik eines Schacht und eines Luther mit der Arbeitsbeschaffungspolitik eines Brüning zu kombinieren sich anschicken - überdies noch mit der Absicht eines umfangreichen Abbaus der Staatsausgaben; freilich nicht der Rüstungsausgaben: eine ›Synchronisierung‹ also von 1923 mit den Jahren 1929 bis Ende 1932. A very old ›deal‹.

Eine solche Wirtschafts- und Finanzpolitik kann nur katastrophale Folgen für Weltwirtschaft und Welthandel, sie wird aber auf jeden Fall verheerende gesellschaftliche Folgen in den USA selbst haben, mit allen sich daran anschließenden Folgewirkungen für das Kräfteverhältnis der Klassen und Schichten in den entwickelten Industriegesellschaften wie den unterentwickelten Staaten des Westens und der Weltgesellschaft. Die Vereinigten Staaten sind heute nicht mehr die von 1933, als Roosevelt sein Amt antrat.

Ein neuer New Deal unter einem ›demokratisch‹ gewählten Präsidenten würde sich heute noch weniger als jener damals von den Maßnahmen unterscheiden, die Hitler in Deutschland, vom Finanzkapital als Retter in der Not der Kapitalsherrschaft in die Reichskanzlei geschoben, den deutschen Arbeitern in Betrieb, Straße und im Sumpf mit Terror und Zwang auferlegte.

Diejenigen, die zur Wirtschaftstheorie des demokratischen Sozialismus einen maßgeblichen Beitrag geleistet haben, können sich sehr wohl ausrechnen, daß für die amerikanische ebenso wenig  für die gesamte Weltwirtschaft weder ein New Deal noch wie im Jahre 1937 eine Rüstungskonjunktur ein Ausweg sein können. Dazu sind allenfalls die bescheidenen, von der französischen und westdeutschen Regierung eingeleiteten Schritte zur Erweiterung des Welthandels und zur produktiven Wiederbeschäftigung der brachliegenden Industriekapazitäten geeignet. Ein inflationärer, mit Arbeitsbeschaffung gekoppelter Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise ist nicht möglich. Immerhin wird die amerikanische Wirtschaft schon seit 1968 mit Kreditinflation, Ausgabe von Schatzwechseln an die ausländischen Gläubiger und Rüstungswirtschaft am Leben gehalten.

Die arbeitenden Menschen in Westeuropa, ihre Vertreter aller politischen Richtungen haben das Interesse, das Überlebensinteresse gemeinsam, daß die Welt nicht wieder ein 1923 oder ein 1932, diesmal nicht nur in globalem, sondern in apokalyptischen Ausmasse erleben muß. In den Ländern der Europäischen Gemeinschaft wie auch in den noch draußen vor der Tür stehenden Ländern Südeuropas muß dies das einigende Interesse für beschäftigte wie arbeitslose Arbeiter und Arbeiterinnen, für sozialistische, kommunistische und christliche Arbeitervertreter in Parteien und Gewerkschaften sein. Es muß vor allem auch von den Arbeitern und Arbeiterinnen selbst zu ihrem gemeinsamen Lebensinteresse gemacht werden. Hier müssen bei allen Aufgaben, die zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise zu bewältigen sind, die Möglichkeiten gesucht und gefunden werden, um im europäischen Maßstab zu Annäherung und Zusammenarbeit zu gelangen.

Jenseits aller ideologischen, organisatorischen, sozialen und kulturellen Aufsplitterungen, die überwunden werden können, gibt es ein gemeinsames Interesse und Ziel, ein altes Ziel der Bewegung der (Lohn-)Arbeiter: das Bedürfnis und die Notwendigkeit einer produktiven, gesellschaftlich nützlichen, menschenwürdigen und lebensnotwendigen Arbeit - das allen Gliedern der Gesellschaft zukommende Menschenrecht auf freie Arbeit. Wenn die Verwirklichung dieses menschlichen Rechts, eines Rechtes, das für die ganze Menschheit Geltung hat, die Arbeiterbewegung jenseits des Kapitalismus drängt, sobald sie es zu verwirklichen beginnt, so wird sie es wagen müssen.

Ein Schritt zu einem neuen Anfang für eine selbständige internationale sozialistische Politik, der vor allem Westeuropas Kommunisten viel an Einsicht abverlangen würde, könnte darin bestehen, daß sich alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte in der europäischen Arbeiterbewegung bereitfänden, der Regierung Helmut Schmidt die erforderliche internationale Rückendeckung zu geben und sie (bei aller notwendigen Kritik) dann als in ihrem Interesse zu akzeptieren, wenn der Sozialdemokrat Helmut Schmidt (zusammen mit dem Präsidenten der Französischen Republik) sich um die Verwirklichung eines Teils der in dem „Deutschlandplan“ des „BDKD“ vorgeschlagenen Nahziele und um die Schaffung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung bemüht.

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