Studienbanner_kleinStudien von Zeitfragen
35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
SvZ-Archiv
Global
Weltmacht
Deutschland
Archiv / Suche
Impressum
Doppelbeschluß
Zauberlehrling
Diagnosen
Integration
Differenz
Rekonsolidierung
Souveränität

Deutschland 1981

Eine Rede in London:


FÜNF PUNKTE oder das
Ausweichen vor dem ENTWEDER - ODER

Von David Hartstein

(Studien von Zeitfragen Jahrbuch, März 1981)

  

 Als Helmut Schmidt im Oktober 1977 vor dem Auditorium des International Institute for Strategic Studies in London die Alastair Buchan Memorial Lecture vortrug und dabei seine (seither immer wieder aus dem Zusammenhang gerissenen) Bemerkungen zu den (auf wessen Verschulden auch immer) in den Verhandlungen zu SALT II nicht einbezogenen ›Grauzonenwaffen‹ zu bedenken gab, war ihm sicherlich nicht nur das Dilemma beider Deutschland unter den Prämissen ›taktischer‹ nuklearer Kriegführung in Mitteleuropa gegenwärtig, das Zyniker so zusammenzufassen pflegen:
»Eine taktische Atomwaffe ist eine Waffe, die in Deutschland explodiert.«

 Darüber hinaus war dem Bundeskanzler gewiß auch noch in Erinnerung, wie er vor vielen Jahren in seinem Buch ›Verteidigung oder Vergeltung‹ Mittelstreckenwaffen oder auch ›eurostrategische‹ Kernwaffen beurteilt hatte - damals allerdings diejenigen der Vereinigten Staaten:

»Unter dem Eindruck des sowjetischen Fernraketenpotentials und zu dessen Ausgleich faßte der NATO-Rat im Jahre 1957/58 den Entschluß, amerikanische Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren; dies ist dann auch in England (Thor), in Italien (Jupiter) und in der Türkei geschehen. Andere europäische NATO-Partner haben es abgelehnt, solche Raketen auf ihrem Gebiet zu stationieren; wiederum andere kamen aus militärischen oder geographischen Gründen nicht in Betracht. Der politische Hauptzweck dieser Unternehmungen war sicherlich, das beeinträchtigte Vertrauen europäischer Regierungen in die Zuverlässigkeit und die Wirkungskraft der Strategie der massiven Vergeltung wieder zu restaurieren.
In Deutschland sowohl als auch in Osteuropa, in Polen vor allem, hat dieser Beschluß eine sehr starke Beunruhigung hervorgerufen, zumal auch von Fachleuten mißverständliche und sich gegenseitig widersprechende Begründungen gegeben wurden. Es scheint, daß die Sowjetunion angesichts der großen Fortschritte, die sie selbst auf dem Gebiet der Raketentechnik machte, die in diesem Beschluß empfundene zusätzliche Bedrohung sehr bald überwunden hat und ihn später nur noch benutzte, um ihren Satelliten Angst zu machen, sowie für allgemeine Propagandazwecke.
Immerhin muß aber jeder objektiv Denkende zugeben, daß die Stationierung feindlicher Mittelstreckenraketen sozusagen vor der Haustür (Türkei!) für jede Großmacht psychologisch als Provokation wirken muß; man stelle sich die amerikanische Reaktion bei einer eventuellen Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba vor.« (Hervorhebung vom Verfasser, DH)

 Einige Jahre, nachdem dies geschrieben war, hat die Welt den Alptraum erlebt und durchlitten, zu dem die Vorstellung des Abgrundes in der Kuba-Krise sich ausgewachsen hatte.

Kampagne für Abrüstung?

 Wenn einer heute in den öffentlichen Zorn und Unmut, in die hysterische Verzweiflung in Ost und West, in Europa und Amerika, in SPD und außerhalb der SPD hineinhört, so scheint herauszuschallen: Helmut Schmidt ist der Urheber des NATO-Rüstungsbeschlusses vom Dezember 1979!

 Das jedoch weiß niemand. Einzig der Bundeskanzler selbst könnte den Beweis dafür oder dagegen antreten. Eines aber ist gewiß: Seine Rede in London hat sich als Spruch eines Zauberlehrlings erwiesen, dem von anderen, die eigentlich auf die Befehle von Politikern hören sollten, die Lösung des nuklearstrategischen Dilemmas in Europa in Gestalt von Pershing II und Cruise Missiles aufgenötigt wurde, eine »Lösung«, die die Zeit für den point of no return im europäischen Theater auf 5 bis 10 Minuten verkürzt.
Man stelle sich die Reaktion der sowjetischen Führung in einem solchen Falle vor...

  Mittlerweile scheint sich hierzulande und anderswo folgende Stimmung auszubreiten: Wer immer sich, ab in Ost- oder Westeuropa, insbesondere durch die Provokationen des ehemaligen NATO-Oberkommandierenden Haig und des Verteidigungsministers Weinberger in Panik versetzen läßt, möchte den NATO-Beschluß am liebsten vom Tisch fegen. Da scheinen manche zu glauben, es genüge, die Regierung der Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Schmidt durch allerlei öffentlichen und gesellschaftlichen Druck (und wütende Angriffe) zu einer Aufkündigung jenes unseligen Beschlusses zu nötigen. Doch woher kämen dann noch irgendwelche Garantien dafür, daß die amerikanische Regierung und die Regierung der UdSSR einmal tatsächlich über die Kernwaffen in Europa verhandeln? Ein derart begrenztes Verfahren, wie es sich in manchen öffentlichen Initiativen der jüngsten Zeit abzeichnet und Taktik durch Hektik ersetzt, ist genauso kurzsichtig wie eine »kämpferische« Tagung der Führung der Sozialistischen Internationale »in der Höhle des Löwen« albern ist.

Friedensgrundlagen

 Es ist, all den trüben Aussichten für eine Fortsetzung der Friedenspolitik in Europa und der Welt zum Trotz, einmal mehr angebracht, gerade vor dem in diesem Monat bevorstehenden XXVI. Parteitag der KPdSU, dessen Ausgang für den eurasischen Kontinent geschichtliche Tragweite haben wird, eine andere Äußerung Helmut Schmidts in derselben >Memorial Lecture< vor dem IISS in Erinnerung zu rufen:

»Eine große Aufgabe westlicher Sicherheitspolitik unter ökonomischem Aspekt sind ausgewogene und stabile Wirtschaftsbeziehungen mit den planwirtschaftlichen Ländern des Ostens.«

 Diese politisch-ökonomische Einsicht hat im Mai 1978 eine beeindruckende Folge und Verwirklichung gezeitigt, die niemand hierzulande bei allem notwendigen Einsatz für Frieden und Abrüstung aus den Augen verlieren darf, wenn es um die Definition der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und psychologischen Grundlagen für eine Politik des Friedens und der Zusammenarbeit geht.

 Artikel 1 des auf 25 Jahre angelegten deutsch-sowjetischen Wirtschaftsabkommens, das bei dem Besuch des Bundeskanzlers und des Außenministers im Sommer letzten Jahres noch ergänzt worden ist, lautet:

»Die Vertragsparteien setzen sich zum Ziel, die wirtschaftliche, industrielle und technische Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten als ein wichtiges und notwendiges Element für die Festigung der bilateralen Beziehungen auf einer stabilen und langfristigen Grundlage zu fördern. Im Hinblick auf die Langfristigkeit der ... Projekte, insbesondere in den Bereichen Rohstoffe und Energie, streben die Vertragsparteien eine weitere Intensivierung der Zusammenarbeit auf der Basis des gegenseitigen Nutzens an.«

  Dieser Vertrag, dessen Bedeutung der Generalsekretär der KPdSU in einer Fernsehrede den Bürgern der Bundesrepublik aus der Sicht der Sowjetunion dargelegt hat, ist trotz der Stürme, die seit Afghanistan aufgekommen sind, bestehen geblieben. Nur wenn die Grundlage dieser Politik in allen Streitfragen zwischen der NATO und den Staaten des Warschauer Paktes erhalten bleibt, läßt sich ernsthaft und mit Aussicht auf Erfolg an die seit zwanzig Jahren überfällige Aufgabe der >militärischen Entspannung< herangehen.
Und das heißt im Klartext: die Befreiung der Geisel Europa von der Geißel der Kernwaffen.

 Jedoch ist mit der Bewahrung des sowjetisch-deutschen Wirtschaftsabkommens noch nicht das geleistet, was der stellvertretende Vorsitzende der SPD - zwei Monate nach dem Breschnew-Besuch - mit den Worten zusammengefaßt hat:
Das Wichtigste: den Absturz vermeiden.


Dem Absturz nahe

 Im Juli 1978, nach der Bremer EG-Tagung, die den Beschluß zur Errichtung des Europäischen Währungssystems gefaßt hatte, und nach dem darauffolgenden Bonner Weltwirtschaftsgipfel sagte der Bundeskanzler am Ende eines langen Gespräches mit zwei Journalisten von der ZEIT:

»...jedem war daran gelegen, tatsächliche Schwierigkeiten zu lösen, die wir für größer halten mögen als die Masse der Menschen, denen es heute zugegebenermaßen besser geht als vor zehn Jahren, sehr viel besser als vor zwanzig Jahren, wenngleich es in unseren Industrieländern auch eine für manche Menschen drückende Arbeitslosigkeit gibt.
Die Menschen in den Industrieländern sehen aber nicht so deutlich, was wir sehen: Daß Hunderte von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern durch diese Weltwirtschaftskrise viel stärker betroffen sind als wir in den Industrieländern. Das allein ist ein zwingender Grund, mit dieser Krise fertig werden zu müssen.
Hinzu kommt: Wenn wir nicht aufpassen, könnte aus der Krise eine Depression werden. Wenn wir nicht aufpassen, kann aus den Versäumnissen in der Energiepolitik eine Katastrophe werden.«

 Die Entwicklung der letzten beinahe drei Jahre nach diesen Äußerungen hat die Weltwirtschaft dem Absturz nur noch näher gebracht. Die entscheidenden Weichenstellungen, die 1978 auf den verschiedensten Ebenen vorgenommen worden waren, wurden in den Jahren danach fast zur Gänze wieder zunichte gemacht, nicht zuletzt durch die Finanzinteressen, die der britischen und amerikanischen Regierung sowie den internationalen Finanzinstitutionen ihre monetaristische Willkür aufzwingen.


Reagan - Neubeginn in Amerika?

 Die entscheidende Frage heute und in den nächsten Wochen und Monaten ist, ob sich der Präsident des konservativen Amerika, der den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verfall seines Landes erkannt hat, als ein (- um es im geschichtlichen Vergleich auszudrücken -) Republikaner im Geiste und der Überlieferung Lincolns erweisen wird und sich für eine Zusammenarbeit mit Westeuropa zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise bereit und stark genug findet, oder ob er den abenteuerlichen Ratschlägen der Abgesandten des “Eastern Establishment” in seinem Kabinett zum Opfer fällt.
Was auch immer dieser neue Präsident bisher an Törichtem über die Weltläufe von sich gegeben hat; auch in der europäischen Sozialdemokratie muß sich die Einsicht bald Geltung verschaffen, daß eine Zusammenarbeit mit den echten ›Amerikanern‹ in der Reagan-Administration nicht allein im Interesse Europas ist. Eine Zusammenarbeit in den wichtigsten Wirtschafts- und Währungsfragen liegt auch im Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika. - Schließlich sind die Völker Westeuropas mit dem amerikanischen Volk verbündet und nicht mit den herrschenden Familien des Eastern Establishment und deren Organen zur Beherrschung der internationalen Politik.

Zusammenarbeit mit Reagan? Diesem hinterwäldlerischen kalten Krieger gegen den Weltkommunismus und die Weltrevolution? - Gutgemeinte Illusionen...


Wenn aber Amerika eine andere Richtung einschlagen würde...

 In den fünfziger Jahren ist im Westen ein Buch erschienen, das als »Die (geheimen) Memoiren Maxim Litwinows«, des langjährigen Außenministers der Sowjetunion in den dreißiger Jahren, ausgegeben wurde. Wer immer der wirkliche Verfasser gewesen sein mag, zum allgemeinen Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise zwischen den beiden Weltkriegen hatte er folgendes zu sagen:

»Wir sind durch unsere Lenkungsmaßnahmen gerettet worden. Man hat das in den kapitalistischen Ländern wohl verstanden. Sie werden zu den gleichen Maßnahmen genötigt sein. Und das wird dann das Ende der Krise sein. Die USA werden Schwierigkeiten haben. Sobald aber eine zentral gelenkte Wirtschaft in Erscheinung tritt, wird die Krise auch ohne Krieg beseitigt werden. Die Gefahr kommt nicht aus den alten kapitalistischen Ländern, sondern aus Ländern wie Deutschland und Japan. Im Augenblick ist Deutschland noch nicht gerüstet. Man muß alle Anstrengungen machen, um zu einer Verständigung unter den Völkern zu gelangen und den neuen Räubern den Weg für einen eventuellen Angriff zu versperren. Dann wird der Friede erhalten bleiben und es wird nicht zum Kriege kommen.
Ich habe lange über die andere Seite der Frage nachgedacht. Wenn man das System der kollektiven Sicherheit annimmt und die kapitalistischen Länder, vor allem die USA, den Weg der dirigierten Wirtschaft einschlagen, so wird auch die Notwendigkeit einer Weltrevolution schwinden. Es genügt, die Sowjetunion in das allgemeine System einzubeziehen, damit die Welt den Weg der beiden Planwirtschaftssysteme - des sowjetischen und des nichtsowjetischen - beschreitet und es zu einer dauerhaften Zusammenarbeit kommt.
...auf jeden Fall muß der Versuch derer, die an die Möglichkeit einer internationalen Solidarität glauben, darin bestehen, ohne Unterlaß zu arbeiten und ihre Bemühungen (um die kollektive Sicherheit) zu verzehnfachen.«

 An einer anderen Stelle gibt der Verfasser ein Gespräch mit dem sowjetischen Wirtschaftspolitiker Wosnessenskij wieder, der einige Zeit lang nach 1945 Präsident der sowjetischen Staatsplanung war:

»Ich glaube an das Verschwinden des Kapitalismus... Deshalb bin ich Mitglied der Kommunistischen Partei. Aber ich glaube nicht an ein Verschwinden nach der von Karl Marx vorgezeichneten Linie. Unsere Revolution hat die wohltuende Kraft einer Planwirtschaft innerhalb der Weltordnung bewiesen, und der Kapitalismus des XIX. Jahrhunderts, wie ihn Marx studiert hat, wird ohne die geringste Revolution verschwinden.
Bleibt die Gefahr eines Krieges, die einzige Gefahr, die den Prozeß der Beseitigung des Kapitalismus in einer planvollen Wirtschaft anhalten könnte. Wenn man dieser Gefahr zuvorkommen könnte...«

 Wenn die Bewegung zur Wiederherstellung und Erneuerung der amerikanischen Wirtschaft, auf deren Welle Ronald Reagan ins Weiße Haus getragen worden ist, in die oben umschriebene Richtung dirigiert werden könnte...


Noch eine Chance - vielleicht die letzte

 Für die Arbeiterpartei in Westeuropa, die europäische Sozialdemokratie, könnten manche der zitierten Gedanken als Wegmarken ihrer »niemals endenden Bewegung« (Richard Löwenthal) dienen. Sie würden sie vor so vielem Drehen im Kreise bewahren.
Jene Gedanken könnten sich aber auch mit der Hoffnung und Zuversicht verbinden, daß sich der XXVI. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion von solchen Gesichtspunkten leiten läßt, die Wege aus den Gefahren für die Weltgemeinschaft weisen, - und damit auch Möglichkeiten für die Zusammenarbeit aller Nationen beim Fortschreiten aus dem imperialistischen Zeitalter offenhält.

  Die folgenden Texte (Erklärung Giscard d`Estaing / Schmidt, Zitat Breschnew, Artikel Kusnezow) verdeutlichen, was mein Beitrag beabsichtigt. D.H.