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35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
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Deutschland 1981

Aus Studien von Zeitfragen Mai 1981:

»Aufgerufen zur Integration«

  ist der Auszug einer Grundsatzrede (im Sozialdemokrat Magazin vom Mai 1981) des SPD­Vorsitzenden überschrieben, die er aus Anlaß des 35. Jahrestages der Urabstimmung über die Frage des Zusammenschlusses mit den Kommunisten zur SED in Berlin gehalten hat.

 Willy Brandt zufolge hat die Öffnung von Godesberg, die Integration eines erheblichen Teils der außerparlamentarischen Opposition nach 1969, das Verkraften des kräftigen Mitgliederzustroms 1972 die Sozialdemokratie, die in der Stunde ihres Entstehens ein Bündnis von Denkenden und Leidenden war, um Lassalle zu zitieren, selbstverständlich verändert. Diese Veränderung ergab sich, wie man weiß, besonders aus folgendem gesellschaftlichen Tatbestand heraus:

»Denn es stießen nun die neuen Schichten: Angehörige der Dienstleistungsberufe, zumeist mit einer höheren Schulbildung, wirtschaftlich relativ gesichert, häufig Angehörige der Nachkriegsgeneration, kurz: Menschen mit Vorstellungen, die sich von denen der alten SPD teilweise und nicht unwesentlich unterschieden, zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.«

 Die ›selbstverständliche Veränderung‹ hat Prozesse der Selbstverständigung erforderlich gemacht: sie dauern in der SPD seit Beginn der 70er Jahre an - mit der Folge auch einer »Polemik in der und außerhalb der SPD schon gegen die Prozesse der Selbstverständigung«, die der Parteivorsitzende für kurzsichtig hält.

 Er setzt solcher Polemik etwas entgegen, was zum einen sicherlich gute Sozialtechnik, zum andern aber auch eine Art von integriertem Eklektizismus zu werden verspricht:

»Wir sind aufgerufen zur Vermittlung, zur Integration - der Menschen wie auch ihrer politischen Haltungen ( - aller? D. Verf. - ). Erinnern wir uns nachdrücklich einer anderen historischen Leistung unserer Partei, vielleicht der größten der Nachkriegszeit, an das historische Bündnis von Godesberg...
Es ist unsere Aufgabe heute, dieses Bündnis zu erhalten, gegenläufige Strömungen wieder zusammenzuführen, unseren Stammwählern Empfindungen der Erbitterung über die kleine Kulturrevolution zu nehmen, die sich da vielfältig abspielte, und den Jungen und sich jung Fühlenden aus den neuen Schichten klarzumachen, daß alle Suche nach neuen Lebens- und Arbeitsformen eine Kaltschnäuzigkeit ist, wenn sie an den Lebensinteressen und an den Sorgen der arbeitenden Menschen in unserem Lande und der sie organisierenden Gewerkschaften vorbeigeht...
»Ich sage, die Chancen stehen gut dafür, daß uns das gelingt. daß es uns gelingt, das gesellschaftliche Bündnis zusammenzuhalten, das unser Land gut vorangebracht hat in den letzten zwölf Jahren - so weit immerhin, daß auch Ideen über neue Lebensformen sprießen konnten. Ich bin da weniger pessimistisch als andere, die in der Kontroverse um einzelne Standpunkte schon die Ankündigung des Untergangs sehen, wir müssen den Blick haben für die längerfristigen Aspekte dieses gesellschaftlichen Wandels, den die meisten reichlich spät registriert haben.«

 Nun - nach den Wahlen in Berlin dürfte feststehen, daß das vom Parteivorsitzenden bezeichnete gesellschaftliche Bündnis (mindestens in ›dieser Stadt‹) unwiderruflich zerbrochen ist. Eingedenk der Berliner Postenwirtschaft mag das mancher nicht einmal bedauern.

 Nun mag der frühere Regierende Bürgermeister von WestBerlin die Rechnung aufmachen, daß SPD plus F.D.P. plus Alternative insgesamt das alte Bild von Stimmenzahlen ergeben. - Doch welche Möglichkeiten politischer Gestaltung ergeben sich aus dieser Konstellation? Ist aus dem gesellschaftlich-ideologischen Bündnis des Sozialliberalismus eine Dreifaltigkeit geworden, die ihre Handlungsfähigkeit an den Freiherrn abtritt, nachdem alle Beteiligten ihren Wetteifer um die Integration von Stimmen und Stammkunden hinter sich gebracht haben?

 Der Sozialtechnik des Parteivorsitzenden, des Bundesgeschäftsführers (mitsamt Beratern) und aller derer, die mit den Alternativen etwas anzufangen versuchen, muß zunächst einmal die Festststellung eines konservativen Sozialdemokraten vorgehalten werden, die eher auf den politischen (und kulturellen) Erziehungs-auftrag verweist, der (- und auch nur dann, wenn Erziehung gelingen kann -) jedweder Aufgabe der Integration in die Partei der Denkenden  und Leidenden vorangeht:

»Mit der Lockerung des Mechanismus der Sozialisierung der Heranwachsenden wird aber nicht nur die Weitergabe von schnell veraltenden Alltagsnormen, sondern oft auch die von grundlegenden Werten der westlichen Zivilisation erschwert. Zugleich leidet unter dem Mangel an glaubhaften Vorbildern die Identitätsbildung der zunehmend ›außengesteuerten‹ jungen Generation, und die resultierende ›Ichschwäche‹ verbindet sich mit der äußeren Desorientierung als Faktor der allgemeinen Lebensangst.
Weltbildverlust und Bindungsverlust zusammen erklären das häufige Phänomen des ›Sinnverlustes‹, der bei vielen Jugendlichen des Westens im letzten Jahrzehnt entweder zur Revolte oder zum passiven Rückzug aus der Gesellschaft - in Hippiekommunen, in Drogenkulte, neuerdings in pseudoreligiöse Jugendsekten - geführt hat. Dabei gehen alle diese Formen der Jugenddissidenz mit einer Erschütterung des Glaubens an wesentliche Werte des Westens einher, wobei der Ersatz oft gleichzeitig in polar entgegengesetzten Richtungen gesucht wird...
Mit all diesen Erscheinungen haben wir offenbar Symptome einer neuen anomischen Krisenphase beschrieben, die diesmal nicht, wie seinerzeit die Phase des nationalsozialistischen Ausbruchs, eine von den Zeitproblemen damals besonders schwer betroffene Nation, sondern Teile der Jugend aller westlichen Nationen ergriffen hat. Die Frage bleibt, welche Konsequenzen die kulturelle Krise für die politische Legitimität der westlichen Demokratien gebracht hat und noch bringen kann...
Die Antwort auf diese Fragen hängt wie bei jedem Prozeß des Wertwandels von politischen, sozialen und geistigen Kämpfen ab, die in diesem Falle noch vor uns liegen. Wir können sie nicht im voraus geben. Eines freilich glaube ich mit Sicherheit voraussagen zu können: Nur wenn dieser Prozeß der Anpassung unserer Normen und Institutionen und der Umdeutung unserer Werte gemäß den neuen Bedingungen und Problemen der Gegenwart gelingt, wird auch die Legitimität unserer demokratischen Ordnungen erhalten bleiben. Scheitert der notwendige Wandel, so wird die anomische Kulturkrise sich ausbreiten - und diese Legitimität zunehmend untergraben, bis das demokratische System am mangelnden Wertkonsens zerbricht.
Die wahrscheinliche politische Alternative wäre in solchem Fall freilich nicht eine kommunistische Revolution. Die neuere Erfahrung zeigt, daß es in entwickelten Industrieländern auf Grund der Abhängigkeit der Existenz der Massen vom Funktionieren komplizierter Verwaltungsapparate nirgends echte Revolutionen gegeben hat, weder demokratische noch kommunistische - höchstens Machtergreifungen ›von oben‹, wie durch Hitler in Deutschland oder die Kommunisten in der Tschechoslowakei. Die wahrscheinliche Alternative im Falle eines Scheiterns des Wertwandels in der westlichen Welt wäre eine Folge ›prätorianischer‹ Gewaltregime - und diese sind, wie schon Spengler wußte, die natürliche politische Form des kulturellen Verfalls.«

 Ein genaues Durchdenken (und vorwegnehmendes Vorstellen) dieser Feststellungen Richard Löwenthals täte den Planern der Integration bitter not, wie auch eine Rückbesinnung auf die (verdrängte) Urgeschichte der alternativen Bewegung.

 David Hartstein