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35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
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Souveränität

Deutschland 1981

 

Ein demokratischer oder
ein deutschhistoristischer Begriff der Nation?

Einige Thesen zu einem möglichen Ausbruch unseres Landes aus einer ideologischen Hegemonie.

Von Erich Knapp (*) (In: Studien von Zeitfragen, Juni 1981)

 

 1. Die Deutschen, eine sprachkulturelle Gruppe, nähern sich im Eilschritt jenem historischen Augenblick, der sie zu einer politischen Entscheidung über Weiterleben oder Massenvernichtung zwingen wird. Diese Entscheidung zwingt sich ihnen auf, weil die Bonner Regierung am 12.12.1979 in Brüssel eine andere Entscheidung getroffen hat: die, atomare Mittelstreckenraketen auf westdeutschem Boden stationieren zu lassen.

 Seit die letzte Bundestagswahl den absoluten NATO- und USA-Gefolgsmann Genscher zum Herrn der sozialliberalen Koalition gemacht hat, bleibt keine Hoffnung mehr, daß die BRD aus dieser verhängnisvollen NATO-Entscheidung ausbrechen kann. Täte es die SPD unter dem Druck ihres linken und pazifistischen Flügels, dann flöge sie aus der Bundesregierung. Eine FDP/CDU/CSU-Koalition ließe dann die Atomisierung Westdeutschlands nur um so glatter über die Bühne des European Theatre laufen.

 Denn darum handelt es sich: Diese Weiterrüstung ist ein qualitativer Sprung und eine derartige Bedrohung der UdSSR, daß bis Ende 1983/84 mit einer Präventivmaßnahme der östlichen Siegermacht über Hitler-Deutschland gerechnet werden muß. Die Ausstattung der mit AKWs überzogenen BRD mit atomaren Mittelstreckenwaffen führt wahrscheinlich zur Atomisierung ihrer Bevölkerung.

 

 Die Souveränität desjenigen, der einen Wehrlosen zur Arbeit zwingt, unterscheidet sich natürlich von der ursprünglichen Souveränität, wie sie, in der Gleichheit der Clan-Mitglieder, Jäger oder Hirten besaßen. Aber dieser Unterschied ist weniger wichtig als es scheint. Erst danach, auf Grund seiner Erfahrung, stören einen Menschen die Folgen der souveränen Laune. Ein solcher Unterschied wird demjenigen sichtbar, der sich bemüht, durch seine souveräne Haltung nicht die mögliche Souveränität eines andern zu zerstören. Aber ohne das endgültige Scheitern der unmittelbaren, durch nichts begrenzten Souveränität bliebe diese unglückliche Souveränität unvorstellbar. Die ursprüngliche Souveränität war naiv, von der der Sklavenbesitzer und Könige unterschied sie sich allein durch mangelnde Gelegenheiten. Wir müssen überdies in der grenzenlosen Bekundung der Souveränität eine Kraft erkennen, die verzaubert, die nicht nur den Souverän hindert, dem Leiden seiner Untergebenen Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Handlung hindert sogar die Untergebenen, ihre Ernied-rigung zu ermessen. Sie verbreitet eine Resignation, die oft sogar angenehm ist, sofern sie eine Möglichkeit bietet, am Ruhm teilzuhaben, dessen Gestalt fasziniert. Gibt es etwas Allgemeineres als das besondere Leben eines Menschen, den die Verehrung eines ganzen Volkes erhöht? Die Übereinstimmung aller verleiht der unvergleichlichen Würde eines einzelnen ihre tiefe Wahrheit. Der Wunsch, die Sauveränität möge sich an einem Punkt ohne jede Begrenzung offenbaren, in der Erwartung, im Schweigen und Zittern der Untertanen, ist bisweilen so gebieterisch, daß letztere sich nicht mehr dessen bewußt sind, daß sie dem König jene Vollmacht übertrugen, die sie selber hätten beanspruchen müssen, auf die sie nicht hätten verzichten dürfen. Manchmal ist es gar nicht mehr wichtig, selbst souverän zu sein, sondern daß die Souveränität des Menschen existiert und die Welt erfüllt, wo es dann nicht mehr darauf ankommt, daß jene servilen Arbeiten sich vollziehen und fortsetzen, die eine durch Haßausbrüche erniedrigte Menschheit hassenswert machen. Aber die Souveränität eines anderen kann sogar erfreulich für den sein, der in Wahrheit nicht das Ding oder der Sklave des Souveräns ist, und dennoch ist sie auf die Dauer unbefriedigend. Selbst wenn der Untertan kein Ressentiment verspürt, kann er nicht verhindern, daß in ihm eine stumme Forderung wachbleibt. Er erwartet für sich selbst einen begrenzten Teil der Gnade, die er unbegrenzt jenem zubilligt, dessen Vorrang er anerkennt. Der Diener des Souveräns erbittet nicht nur eine Landzuteilung, sondern auch, kraft der alternierenden Kondensations- und Diffusionsbewegungen, einen Anteil an der vom Souverän ausstrahlenden sakralen Existenz.

Da diese Vollmacht sich zunächst in einer Person kondensiert, ist es nur logisch, daß alle souveränen Ressourcen des Volkes, daß alles Eigentum, welches ihr Prinzip und ihre Quelle darstellt, dem Oberhaupt gehören. Der Grundbesitz, tatsächlich der Besitz des gesamten Bodens, ist gewissermaßen mit der souveränen Würde identisch. Der Pharao entlohnte die in seinem Dienst stehenden Priester und Verwalter hauptsächlich mit Landzuteilungen. Aber das wesentliche Kennzeichen dieser Belohnung war eine Verschiebung, durch die der Konzessionär sich bemühte, zwischen dem Boden und ihm ähnliche Bande herzustellen wie die, welche ursprünglich diesen Boden mit dem Pharao vereinten. Es handelte sich darum, ein Benefizium, im Sinne des feudalen mittelalterlichen Rechts, aus dem zu machen, was zunächst das Attribut einer Funktion, eines Offiziums, war. Der Übergang vom Offizium zum Benefizium, ein Prinzip jeder Feudalität, ist im wesentlichen der Übergang von der Unterordnung im Dienste des Souveräns zur Souveränität des Lehnsträgers. Natürlich ist das nicht die vollständige Souveränität, die vielleicht nie erreicht wird, weil sie nie ein reines Benefizium (eine reine Nutznießung) ist, weil sie stets, selbst von seiten des Lehnsherrn, ein wenig Offizium, ein Dienst ist. Aber sobald die Konzession erblich wird, ist das Offizium wirklich ein Benefizium, gibt es wirklich eine Feudalität, eine zumindest relative Souveränität der Grundbesitzer. Der »Adel« ist wenigstens die unauslöschliche Spur der souveränen Gnade, bewahrt von den Nachkommen derer, die in ihren Genuß kamen.

George Bataille über Souveränität (1954)

 2. Die tödliche Bedrohung der Menschen in der BRD ist die Spätfolge der Entscheidung nach 1945, sich ohne Souveränität den USA zu unterstellen. Souveränität jedoch hatten wir nicht erst 1945 verloren, sondern 1933. Wir hatten sie nicht durch eine antinazistische Revolution hergestellt. Das war auch nach 1945 gar nicht versucht worden. Denn das hätte bedeutet, uns wirklich vom Nazismus zu befreien – und nicht nur von ihm, sondern von seinen alten historischen Wurzeln. Wir Demokraten dachten naiv, es genüge, eine bürgerlich-demokratische Verfassung zu schaffen. Unsere historischen Machthaber hingegen wollten ihre Machtposition zurückerobern.

 Und das gelang. Weil wir für Machtfragen blind waren. Und es konnte gelingen, weil Nazis, Kapitalisten und Staatsabsolutisten (im wesentlichen Ministerialbeamtenschaft, Polizei, Berufsoffiziere, Staatsanwälte, Richter) ein Bündnis mit den Kreisen in den USA schlossen, die die Weltherrschaft erobern wollten. Mit ihrer Hilfe sollte das „alte Deutschland“ auch außen-, und das heißt: ostpolitisch die verlorene Macht zurückgewinnen.

 3. Die gleichzeitige „Teutonisierung“ (Ziel: „Wiedervereinigung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937“) und Amerikanisierung Westdeutschlands, für die jetzt der blutige Preis gefordert wird, wäre unsern Landsleuten nicht zu vermitteln gewesen, wenn der revisionistische Blick nach Osten, über die DDR hinaus bis Memelland, nicht allgemein so ausgerichtet gewesen wäre.

 Man hielt sich für eine Nation und das Deutsche (Bismarck`sche) Reich für deren Festung. Einheit und Reich wiederherzustellen, sich um die Begleichung der Kosten der Nazis drücken wollen – das wäre auch nicht annähernd zu verwirklichen gewesen ohne Adenauers Angebot der Remilitarisierung.

 Der Kalte Krieg und die Gefahr des Ausbruchs eines heißen Krieges waren konstitutiv für die Entstehung und Erstarkung des restaurativen Gesellschafts- und Staatssystems BR „Deutschland“. Wer den (ost)deutschen Kommunisten und ihrem Staat die Annihilation, der VR Polen die Halbierung (Oder-Neiße-Gebiet) bereiten wollte, der mußte das Nachkriegssystem der UdSSR angreifen, und das heißt eine Weltmacht. Und dazu brauchte man nach dem zweiten verlorenen Weltkrieg die Hilfe der anderen Weltmacht.

 Lächerlich war allerdings die Annahme, daß diese Weltmacht, deren Prinzip der kapitalistische Kampf aller gegen alle ist, ein „Freund“ werden und bleiben könne. Das Bündnis Washington-Bonn mußte irgendwann einmal den schwächeren Partner zugunsten des stärkeren in den Abgrund werfen. Kurz davor stehen wir heute.

  Zu erwarten, daß das Bonner Machtsystem uns davor bewahren könnte, hieße zu glauben, daß der Henker den Gefangenen kurz vor der Hinrichtung aus der Todeszelle befreien würde. Unser Garotte-Bündnis mit den USA ist also Folge der Politik jener traditionellen Machthaber in Deutschland, die den Nazismus an die Macht gebracht hatten und unter Vermeidung der Strafe einen dritten Versuch des „Griffs nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer) unternehmen wollten.

 Es ist aber auch Folge der ideologischen Hegemonie der alten staatsabsolutistisch-monop olkapitalistischen Herrenklasse über das Denken der deutschsprachigen Massen in Mitteleuropa.

 4. Deshalb können wir uns vor dem absichtlich (von Washington) provozierten sowjetischen Entwaffnungsschlag auf Westdeutschland nur retten durch einen erfolgreichen Widerstand auf zwei Ebenen.

 Auf der Ebene praktischer Politik muß der NATO-Beschluß vom 12.12.1979 ersatzlos aufgehoben werden; aber nicht durch den Versuch, über den Drei-Parteien- und Staatsapparat der BRD vorzudringen ( – der würde diese Bewegung so elastisch wie repressiv abwürgen – ), sondern durch eine massenhafte Friedensbewegung, durch einen gewaltfreien (also unser Gewaltsystem nicht bestätigenden) Widerstand.

 Das ist aber nur möglich durch einen Ausbruch aus dem Gefängnis der ideologischen Hegemonie, in der unser Denken gefangengehalten wird. Praktisch muß das Volk der BRD seine Souveränität erkämpfen, das heißt die Usurpatoren des Bonner Systems, das ein amerikanisches Subsystem ist, entmachten.

 Praktisch: das heißt auf vorgegebene unpraktische Definitionen verzichten, namentlich auf Forderungen, die über die Grenzen der BRD hinausgehen, wie zum Beispiel irgendetwas ‚für‘ die DDR zu artikulieren.

 Wir können nur dort erfolgreich arbeiten, wo wir praktisch etwas bewirken können, und das ist in der BRD. – Wer aber jetzt einen gleichzeitigen Austritt von BRD und DDR aus den jeweiligen Bündnissen fordert, der spielt nur eine Variante der falschen 45er Entscheidung: er bliebe ‚gesamtdeutsch‘ orientiert und gerade dadurch unfähig, uns hier in Westdeutschland zu befreien.

 5. Auf der Ebene des Denkens müssen wir uns spätestens jetzt klarmachen, daß die Gewinnung der Souveränität des Volkes identisch ist mit der Konstituierung der Nation. Umgekehrt besteht dort keine Nation, wo das Volk keine Souveränität erkämpft hat.

 Hier wird nicht, gleich deutschen Staatsjuristen, „staatspolitisch“ von der Souveränität gesprochen, sondern von der (inneren) Volks-Souveränität. Erst wenn diese zustandegekommen ist, kann die äußere Souveränität (des Staates, der dann ein Instrument des Volkes geworden ist) demokratisch sinnvoll (‚legitim‘) sein. Wer zuerst an Staatssouveränität denkt, wie es in Deutschland seit je der Fall war, zementiert die Souveränität des Staatsapparates über das Volk. Eine Nation ist also eine sich selbst bestimmende Gesellschaft im Besitz eines Staates (als Beamtenapparat), den sie sich nach ihren Bedürfnissen modelt.

  So definiert, hat es jedoch niemals eine deutsche Nation gegeben. In der Art und Weise blieb es nach 1945 gleich, wie sowohl Österreich als auch die DDR aus dem Verband des Deutschen Reiches bzw. des Staates, der die „Nachfolge“ dieses Reiches staats- wie völkerrechtlich beansprucht, ausschieden.

 Es ist jeweils Aufgabe des Volkes, seine Souveränität gegen die jeweilige nicht legitimierte Herrschaft und die jeweils unnötig gewordene gesellschaftliche Gewalt zu erringen.

 6. Der Begriff der Volkssouveränität ist in der französischen und angelsächsischen Aufklärung geschaffen und gegen die Fürstensouveränität gewendet worden. Für jeden Demokraten, ob bürgerlich, ob proletarisch, ist er der grundlegende. Wer auf ihn verzichtet, hört auf, Demokrat zu sein.

 Der moderne Begriff der Nation wurde in der Französischen Revolution von 1789 und durch seinen Theoretiker Sieyès geprägt. Nation war die politische Herrschaft einer Klasse und ihrer Bündnispartner (in Frankreich damals Bourgeoisie, Stadtarmut und Bauernschaft) gegen König, Adel und Klerus.

  „Vive La Nation“, war der Schlachtruf der revolutionären Armeen. Faktisch waren der französischen Revolution schon die niederländische, die englische – beide noch ideologisch borniert; protestantisch die erste, gewohnheitsrechtlich die andere – und die amerikanische Revolution vorangegangen.

 Doch erst die amerikanische und französische Revolution hatten eine menschheitliche Zielsetzung. So verstanden sich auch die Bürger der Revolution ( – allen voran ihr Führer LaFayette – ) von 1789 anfangs als ‚universels‘, nicht als Franzosen. Und deshalb konnte diese Revolution (lange vor Bonaparte) die Grenzen Altfrankreichs rasch überschreiten. – Die Mainzer Republik verstand sich zugleich als deutschsprachig und als Teil der revolutionären („fränkischen“) Nation; deshalb beantragte sie ihre Eingliederung in die westliche Republik.

 7. Die „Nation une et indivisible“ im revolutionären Frankreich war zwar jakobinisch-zentralistisch organisiert, um sich gegen die Invasoren behaupten zu können (–ursprünglich hatte sie, wie auch später die Commune de Paris von 1871, ein föderalistisches Konzept! Was gern verschwiegen wird–), jedoch demokratisch-dialogisch, da anders der gemeinsame politische Wille nicht ermittelt werden kann.

 Einheit der Nation kommt also durch die solidarische Auseinandersetzung zustande, durch den bei uns verpönten „Parteienhader“ (– wir können es heute noch lesen: „die zerstrittenen Grünen“, als ob das abwerten könnte...), und nicht durch eine von oben erzwungene Disziplin.

  8. Die Reaktionen auf das Vordrängen der sansculottischen und napoleonischen Armeen in Kontinentaleuropa waren nicht einheitlich. In Wallonien, im Rheinland, in Italien und Polen wurde die Befreiung vom feudalabsolutistischen Joch mit Begeisterung aufgenommen.

 In Spanien, Preußen, Österreich und Russland leisteten die Höfe einen zeitweise verdeckten, dann offenen Widerstand, die Volksmassen waren zu sehr in der Dumpfheit der Untertanen versunken, um anders fühlen zu können als ihre Herren. Hier setzte man die bürgerlichen Freiheiten und Rechte, zusammen mit den Befreiern, durch; dort redete man allenfalls von der Freiheit – der altvertrauten des ungestörten Herrschens. Es ging um die Freiheit der Herren über das Volk und die Völker.

  9. Während die Höfe Russlands und Spaniens sich damit begnügen konnten, an die dumpfen Empfindungen ihrer Bevölkerung zu „appellieren“, um eine Guerilla gegen die revolutionäre Armee zu entfachen, war die Lage für die Herrschenden im deutschsprachigen Mitteleuropa schwieriger.

 Hier gab es zwar ebenfalls die Gewohnheit des Dienens und die Angst vor der Freiheit und der Selbstbestimmung. Aber sie waren nicht mehr total. Also mußte man den Deutschsprachigen eine modernisierte Ideologie in die Gehirne propfen. Dies tat die politische Volkstums-Romantik. Den Deutschen wurde gesagt, ihre Sprache sei die reinste (Fichte), ihr „Blut“ dasselbe wie das ihrer Fürsten (also aristokratisch). Der sprachkulturelle Begriff des Deutschen wurde politisiert und gegen den des „Franzmanns“ und Welschen, des Slawen und des Juden gestellt. Mundart zu sprechen wurde ausgegeben als politische Mündigkeit.

 Diese erste „Tendenzwende“ in Mitteleuropa machte es möglich, die Feudalordnung zu retten, den absolutistischen Staat bis in unsere Tage fortzuführen, die Demokratie zum plebiszitären Populismus umzubiegen – kurz: der bürgerlichen Revolution zu entgehen.

 10. Die 1848er Revolution und die Weimarer Republik scheiterten, wie gegenwärtig und künftig die Bonner Republik, daran, daß sie nicht bereit waren, die Nation radikal als Selbstbestimmungsgesellschaft zu definieren. Die falsche Definition der Nation als einer sprachlich-völkisch-rassischen Gruppe machte das Abwerfen der Fürstenherrschaft ebenso unmöglich wie nach 1918 das Abwerfen der Klassen des Militarismus und Staatsabsolutismus – und wie nach 1945 die Beseitigung des Nazismus und seiner gesellschaftlichen und ideologischen Ursachen und Verursacher.

 Es ist nicht unwichtig, daß 1789 in Frankreich die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte erfolgte, während die Paulskirchen-Verfassung von den „Rechten der Deutschen“ sprach. Nur logisch, daß die Tschechen mit Frantisek Palacky bewußt einen deutschvölkischen Einheitsstaat (selbst als Staatenbund) ablehnten und daß die Südslawen unter Jelacic dumpf-unbewußt die marode Herrschaft agrarischer Feudalität verteidigten gegen die drohende verschärfte Ausbeutung durch deutschsprachige kapitalistische Demokraten.

 Die deutsche Demokratie war infolge ihrer antifranzösischen, romantischen Prägung unfähig zu revolutionärer Radikalität, unfähig zur Bildung einer multi-ethnischen Nation. Sie konnte nur orientieren auf eine abgestufte Teilhabe der unteren Klassen am Machtmonopol der Herrenklasse. Dies ist nach 1871 der deutschen Bourgeoisie gelungen. Keinem Menschen in Deutschland ist, nebenbei bemerkt, das Demütigende der Inschrift am Berliner Reichstagsgebäude aufgefallen: „Dem Deutschen Volke“ ... gnädigst gewährt von den Hohenzollern. Der verzagte Kampf um die Mit(!)bestimmung in der Montanindustrie zeigt, daß die deutsche Arbeiterschaft ebenfalls kein radikales Konzept hat.

 Massenpsychologisch ergibt sich aus einer derartigen Bescheidenheit zweierlei:

 daß man die gnädigst gewährten oder nach Kriegen importierten bürgerlichen Rechte immer wieder abgenommen bekommt – und damit entschädigt wird, indem man als Gefreiter, Unteroffizier oder Kapo anderen Völkern gegenüber den Herrn spielen darf.

 11. Doch wenn es noch ein, freilich perverses, Vergnügen war, Besatzer in West-, Süd- oder Osteuropa zu sein – das bißchen Kujonieren von „Kameltreibern“ und „Ithakern“ in unseren Fabriken und das bißchen Hoffnung, in Osteuropa als „Befreier“, unterstützt durch die US Army, herumstolzieren zu können, sind alles abgestandene Lüste. Immer sichtbarer wird, daß wir alle zusammen untergehen, Gastarbeiter und mürrische Gastgeber, Bundesdeutsche und Osteuropäer.

  – Es sei denn, wir, in deren Land sich der Knoten dessen schürzt, was wir aus dummer Gewohnheit „Schicksal“ nennen, was aber nichts als das Ergebnis unserer Feigheiten und unseres Selbstbetruges ist, nehmen unser Land in Besitz.

 – Es sei denn, wir erkämpften endlich, was wir 1848, 1918, 1945 massenhaft nicht wirklich gewollt haben: unsere Souveränität, unsere politische Freiheit – nicht die Souveränität unserer Herren und ihrer Machtapparate, nicht irgendeine luftige „Freiheit des Christenmenschen“ oder der Innerlichkeit, sondern die konkreten, juristisch definierbaren Freiheiten des Citoyen.

 („Der Mensch ist frei geboren“, sagt Rousseau, „und überall ist er in Ketten. Mancher hält sich für den Herrn seiner Mitmenschen und ist trotzdem mehr Sklave als sie“.)

 12. Damit wir das tun können, damit wir uns frei machen können von der Stationierung der atomaren Selbstmordraketen und einem Militärbündnis, das zum Beschluß vom 12.12.1979 geführt hat, müssen wir uns durch einen gesellschaftspolitischen Kampf zur Nation konstituieren.

 Wir sind noch keine. Wir waren nie eine. Wir müssen eine werden.

 Da wir schlicht leben wollen, nicht herrschen, und da wir nicht überleben können, wenn nicht unsere Nachbarn ihres Lebens ebenso sicher sein können wie wir, kann unser Nationwerden nicht auf historischen und Staatsrechten fußen, auch nicht auf Sprach- und Kulturgrenzen, sondern einzig und allein auf unserem Menschentum.

 Da der Mensch aber ein zoon politikon ist, ist Menschentum immer nur politisch, gesellschaftlich möglich.

 Unsere Selbstbefreiung dort, wo wir leben, in Westdeutschland, erweist jede „gesamtdeutsche“ Tendenz als befreiungsfeindlich. Jedoch ist es gerade die nicht-ethnische Selbstbefreiung, das radikale Setzen auf uns Menschen als Gesellschaftswesen, die unseren Aufstand für unsere Souveränität zu einem Vorbild über die Grenzen Westdeutschlands hinaus machen könnte. Die scheinbare Einengung des Begriffs der Nation auf Gesellschaftspolitik statt auf historisch-biologische Gegebenheiten verschafft ihr Radikalität und Universalität.

 13. Wir können eine Nation werden, wenn wir wirklich Demokraten werden wollen. Versuchen wir aber noch einmal, unserer Selbstkonstitution, also unserer Nationwerdung, ein historistisches, aus der verrotteten Geschichte Mitteleuropas gewonnenes Konzept überzuwerfen, dann werden wir wieder einmal ersticken.

 Wo bliebe denn die Souveränität des Volkes, wen man es mit Definitionen einschränken wollte, noch bevor es den Prozeß seiner Selbstfindung in der Tat erfolgreich abgeschlossen hat? Die Nation, die auf dem Boden Westdeutschlands so entstehen muß, wie die niederländische und die Schweizer Nationen auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches einst entstanden sind, muß sich keineswegs eine „deutsche“ nennen, auch wenn ihre Bürger, wie die meisten in der Schweiz, deutsch sprechen. – Im Gegenteil: Nur durch unsere Selbstbefreiung von Erbschaften, die uns in Kontexten fesseln, deren Konsequenz die kriegerische Vernichtung aller menschlichen Substanz ist, können wir unser Überleben sichern.

 


 (*) Erich Knapp hatte eine lange demokratisch-republikanische Laufbahn, vor allem in der sozialdemokratischen Partei und in den beiden ersten sozialdemokratisch geführten Regierungen, zurückgelegt, bevor er sich nach dem “Doppelbeschluß” dazu entschloß, die Partei der Grünen mitzubegründen und in ihrem Vorstand eine Richtung der Politik für den Frieden (mit)zubestimmen. Am 14. September 1981 trat er von seinen Funktionen zurück, indem er sich “von der unpolitischen Konzeptionslosigkeit” der grünen Bundespartei distanzierte. (SvZ)