Studienbanner_kleinStudien von Zeitfragen
35. Jahrgang InternetAusgabe 2001
SvZ-Archiv
Global
Weltmacht
Deutschland
Archiv / Suche
Impressum
Globalisierung?
Global 2
Global 3
Global 4
Global 5
IWF 1977

Globalisierung?

 

Die Dokounta des Parmenides

Von David Hartstein (30. Mai 1998)

 Was bei unserem letzten Treffen am Ende des Berichtes zur Finanzkrise in Asien bei Parmenides zur Kenntlichmachung des Zustand der globalen Auflösung entlehnt wurde, soll noch einmal zur Erinnerung an den Anfang meiner Wiederaufnahme und Fortsetzung der Beschreibungen und Berichte zur Globalisierung gestellt werden:

Zu Parmenides sagte die Göttin:

»So gehört es sich, daß Du alles erfährst: einerseits das unerschütterliche Herz der wirklich überzeugenden Wahrheit, andererseits die Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt.«

  »Gleichwohl wirst du auch hinsichtlich dieser Meinungen verstehen lernen, daß das Gemeinte gültig sein muß, insofern es allgemein ist.«

Parmenides, Über das Sein, Vers 1

 Mit der Finanzkrise in Asien hat, wie bereits im letzten Bericht beschrieben, etwas begonnen, was als Auflösung und Beginn der Vernichtung des spekulativen Empirismus bezeichnet werden könnte. Der Internationale Währungsfonds als »supranationales Kontroll- und Hilfsorganisation«, dessen Fähigkeit, mit den Finanzkrisen in Asien fertig zu werden, man schon Ende letzten Jahres anzweifeln mußte, hat bewirkt, daß die Finanzkrise in Indonesien sich zur sozialen und politischen Krise zugespitzt hat. Der Bankrott Indonesiens, der Zusammenbruch der Wirtschaft und der Beginn des Massenhungers unter der Bevölkerung von mehr als 200 Millionen Menschen ist unaufhaltsam. Und die Studenten, die wähnten, einen Diktator mitsamt seiner korrupten Familie aus dem Amt demonstriert zu haben, werden noch lernen, wer die Urheber des Diktates sind, das binnen kurzem zur Explosion des Elends in ihrem einstmals »aufstrebenden Land« führt.

Das Ende Rußlands

  »Soviel Ende war nie«, beginnt ein Buch über das Ende der Sowjetunion, das 1991 erschienen ist und in dem ich gestern abend noch einmal geblättert habe. »Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus verschwindet eine ganze Epoche und wird Geschichte«, fährt der Verfasser fort.

 Und mit diesem Zusammenbruch war auch Rußland neu erstanden, dessen Emporsteigen mit dem von Boris Jelzin angeführten Aufstand gegen den Machtapparat der Sowjetunion zugleich mit dem weltweiten Triumph der freien Marktwirtschaft eine riesige Ausplünderung und »Globalisierung« von Arbeits- und Volksvermögen einleitete. – Bis zum Staatsbankrott! »Noch mehr Ende steht bevor«, so könnte man 7 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion den zitierten Verfasser übertreffen.

  Am Donnerstag betrugen die Währungsreserven der russischen Zentralbank nurmehr 9 Milliarden Dollar. Von überall her, wo das globale Kapital in den letzten Jahren in Rußland einen schnellen Rubel machen wollte, wird nun Geld abgezogen. Keiner will mehr russische Staatsanleihen kaufen: Am 13. Mai scheiterte die Regierung mit der Auktion von 1,6 Milliarden Dollar neuer Anleihen, deren Laufzeit auf ein Jahr befristet war und 30% Jahreszins eingebracht hätte. Zu langfristig und zu niedrige Verzinsung für die internationalen Fonds und Anleger, die in Rußland, wo nicht mehr nur Bergarbeiter streiken, weil sie seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten haben, kein Vertrauen mehr haben, weil aus dem russischen Staatshaushalt kaum noch etwas herauszuquetschen ist.

 In der Privatisierungsorgie seit 1991, in der das Kapital des realen Sozialismus billig verschleudert wurde, ist von dem Volksvermögen, was im Lande blieb, zuwenig produktiv eingesetzt worden. Über die Einnahmen des Staates zerbricht sich der Präsident auch erst seit wenigen Tagen öffentlich den Kopf, weil er die Bezahlung der streikenden Arbeiter nicht verweigern kann, wenn er nicht eine soziale Explosion riskieren will. Je mehr Massenstreiks der Arbeiter aber die Abzweigung von Staatseinnahmen für ihre Bezahlung erzwingen, desto weniger Sicherheiten bietet der russische Staat den aus dem Rubel flüchtenden Anlegern. Um den Wert des Rubels entgegen aller Absetzbewegungen der Finanzmärkte konstant zu halten, hat die Zentralbank die Geldmarktzinsen unter Banken auf 150% erhöht. Das wird genauso wenig nutzen wie die geplanten und zugesagten Dollarspritzen des Währungsfonds. Unter den Teilnehmern an dem, was im Wirtschaftsteil der FAZ Finanzmärkte genannt wird, ist man sich über die Feststellung einig:

 »Die insgesamt vom Internationalen Währungsfonds vorgesehenen Kredite über 9,2 Millarden Dollar sind angesichts der Situation wie ein Tropfen auf den heißen Stein.« – Es sieht nicht so aus, als könne noch irgendwo ein milliardenschweres »Care«-paket geschnürt werden, um Rußland vor dem Staatsbankrott zu retten.

  Man muß zu dieser Feststellung hinzufügen, daß Rußland bisher noch von einer Lawine der Währungsspekulation verschont geblieben ist, wie sie die sogenannten Tigerstaaten in Asien umgerissen hat. Wenn die Dämme des letzten Vertrauens in den Rubel brechen und die Computerprogramme der Fondsmanager, die »Software des fiktiven Kapitals« simultan den Befehl zum Verkauf auslösen, wird die Asienkrise Europa erreicht haben.

...Und was hat Europa damit zu tun?

 Nach einer Krisensitzung am 28. Mai bemühte sich Präsident Jelzin, ausländische Investoren mit der vielsagenden Behauptung zu beruhigen: »Ein russischer Finanzkollaps steht nicht unmittelbar bevor.« Schon in den kommenden Tagen könnte Rußland in die Fußstapfen Thailands, Indonesiens und Südkoreas treten und ein weiteres Mega-Rettungspaket der internationalen Staatengemeinschaft erforderlich machen, weil sonst der Staatsbankrott unvermeidlich wäre.

 Dieser würde insbesondere die deutschen Banken ins Mark treffen, denn Deutschland ist mit Abstand Rußlands größter Gläubiger. Ende 1997 betrug die Auslandsverschuldung des russischen Staates nach Angaben der Deutschen Bank 123,5 Mrd. Dollar (umgerechnet etwa 220 Mrd. DM). Davon entfallen nach der jüngsten Statistik der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) 72,2 Mrd. Dollar auf Schulden gegenüber ausländischen Banken. Dabei sind deutsche Banken mit 30,5 Mrd. Dollar mehr als 30mal so stark exponiert wie britische oder japanische (siehe Tabelle 1). Zumeist handelt es sich hier um Kredite, die noch aus der Zeit der Sowjetunion stammen.

Verschuldung Rußlands gegenüber ausländischen Banken

Land der Gläubigerbanken

Mrd. Dollar

Deutschland

30,452

USA

7,071

Frankreich

6,967

Italien

4,290

Österreich

3,584

Niederlande

2,203

Japan

0,985

Großbritannien

0,967

weltweit

72,173

Quelle: Konsolidierte internationale Bankenstatistik
zum Jahresende 1997, BIZ, 25. Mai 1998

  Weiterhin steht Rußland bei den Kreditrisiken der Bundesregierung im Rahmen der »Hermes«-Garantien an allererster Stelle. Ende 1996 betrugen die gesamten »Hermes«-Risiken einschließlich ausstehender Zinszahlungen 252,6 Mrd. DM. Davon entfielen 65,7 Mrd. DM auf Asien, 33,2 Mrd. DM auf Lateinamerika und 42,0 Mrd. DM auf die Nachfolgerstaaten der Sowjetunion. Man beachte, daß sich neben Rußland auch Indonesien (Jahresende 1997: 14 Mrd. DM) unter den größten Empfängerländern deutscher Hermes-Exportkreditversicherungen befindet. Zu Beginn des Jahres bekannte das Vorstandsmitglied der Deutschen Bank Josef Ackermann, angesichts hoher Kreditaußenstände sei Indonesien »ein deutsches Problem«. Es kann hinzugefügt werden, daß die drohende Zahlungsunfähigkeit Rußlands noch sehr viel mehr »ein deutsches Problem« darstellt.

Eine Finanzkatastrophe »jenseits unserer Vorstellungskraft«

 Es ist damit zu rechnen, daß bis zum Ende Juni in allen industrialisierten Schwellenländern wie zum Beispiel Brasilien sämtliche spekulativen und beweglichen Geldkapitalanlagen von den »Finanzmärkten« leergeräumt werden. Diese Geldströme werden noch eine Zeit lang den spekulativ-inflationären Irrsinn nähren, der an der Wall Street, an der Frankfurter und Londoner Börse den jubelnden Händlern den Verstand trübt und in einer ständig sich mehr aufblähenden Blase wieder und wieder neue Privat- und Kleinanleger verführt und mit sich emporreißt.

 Doch selbst ein Mann, dessen Entscheidungen und öffentliche Worte für die internationalen Finanzmärkte noch schwerer wiegen und folgenreicher gedeutet werden als einst das Orakel von Delphi für Hellas, beginnt zu ahnen, daß auch die Olympier der Globalisierung die Beherrschung schon verloren haben.

 Am 7. Mai hielt der Chef der amerikanischen Zentralbank, Alan Greenspan, ein Mann, der in seiner Position derzeit mächtiger als der amerikanische Präsident ist, eine aufsehenerregende Rede auf einer von der Federal Reserve of Chicago veranstalteten Konferenz, bei der er erneut das ganze Ausmaß der Ohnmacht der mächtigsten Zentralbanken unter Beweis stellte. So habe man es heute mit einem völlig andersartigen Finanzsystem zu tun als in irgendwelchen früheren Zeiten. Greenspan weiter:

»Diese globalen Finanzmärkte, angetrieben durch eine schnelle Verbreitung grenzüberschreitender Kapitalflüsse und Finanzinstrumente, haben eine Fähigkeit zur Fehlerübertragung entwickelt, die sich mit erheblich größerer Geschwindigkeit durch das Finanzsystem ausbreiten als es früheren Generationen bekannt war.«

 Folglich sei es eine vordringliche Aufgabe, zu verstehen, »wie dieses High-Tech-Finanzsystem funktioniert. Insbesondere benötigen wir ein solches Verständnis, um die Wahrscheinlichkeit dafür zu minimieren, daß wir einer systemischen (Hervorhebung. d. Verf.) Erschütterung jenseits unserer Vorstellungskraft und unserer Möglichkeiten, wirkungsvoll zu reagieren, ausgesetzt werden.« Man müsse sich die Frage stellen, ob wir in der Lage sein werden zu lernen, »unser ins Kraut schießendes, manchmal frenetisches, neues Weltfinanzsystem zu stabilisieren«.

 Die größere Hebelwirkung moderner Finanzinstrumente habe zur Ausweitung der Liquidität an den Märkten erheblich beigetragen. Aber: »Wie ich betonte, aufgrund dieser Hebelwirkung wird es immer die Möglichkeit einer mehr oder weniger wahrscheinlichen Kettenreaktion geben, einer kaskadierenden Abfolge von Zusammenbrüchen, die in einer finanziellen Implosion kulminiert, sofern ihr nicht Einhalt geboten werden kann.« Das ist ziemlich starker Tobak für einen Notenbankchef, der für die sorgfältige Wahl seiner Worte hinlänglich bekannt ist.

 Mehrfach bezeichnete Greenspan dabei die grenzüberschreitenden Interbankenkredite, bei denen es sich zumeist um kurzfristige Kredite handelt, als »Achillesferse des Weltfinanzsystems«. Diese stellten in zunehmendem Maße ein »Systemrisiko sowohl für das nationale wie für das internationale Finanzsystem« dar. Nach den jetzigen Vorschriften der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel, müssen Banken ihr Volumen an kurzfristigen Interbankenkrediten mit einer Eigenkapitalreserve von lediglich 2% absichern, während bei Krediten an Nicht-Banken 8% verlangt werden. Dahinter steht natürlich die Mutmaßung, daß Banken im allgemeinen besonders sichere Schuldner sind. Greenspan warnte, daß ohne eine Verschärfung dieser Vorschriften das Risiko schwerer Störungen des Zahlungssystems und der Finanzmärkte im allgemeinen ansteige. Falls die Gläubigerbanken annehmen sollten, daß es ein automatisches Sicherheitsnetz für derartige Interbankenkredite gebe, daß man diese also als eine Art Staatsschulden betrachten könne, dann wären sie jedenfalls auf dem Holzweg.

 Denn ein »Versichungsschutz gegen Finanzkatastrophen« durch die Zentralbanken, dank ihrer unbegrenzten Fähigkeit, Geld zu drucken, sei nur den »seltensten Katastrophenfällen« vorbehalten. – Doch weder läßt er sich darüber aus, unter welchen Umständen ein solcher »Katastrophenfall« auszumachen wäre noch über irgendwelche Gegenmaßnahmen, um die »finanzielle Implosion« abzuwenden. Aber es ist ohnehin klar, was geschähe, wenn man in den »seltensten Katastrophenfällen« zur unbegrenzten Fähigkeit, Geld zu drucken, Zuflucht nähme: die Weimarer Endlosinflation im globalen Maßstab. Japan zum Beispiel ist bereits mit seinem für die Banken quasi kostenlosen und erheblich angeschwollenen Geldnachschub kurz vor diesem Abgrund angelangt.

 Greenspans Warnungen sind die Meinung eines Sterblichen, wiewohl er göttergleich an der Spitze der wichtigsten Zentralbank der Welt mit der Macht über den Dollar und den Zins »die Meinungen der Sterblichen, denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt«, beherrscht. Dieses Vermögen ist ihm, dem von den Vertretern des Gemeinwesens der Vereinigten Staaten ernannten Bürokraten, nur deswegen zu eigen, weil mit ihm jemand zum Herrn des Allgemeinsten, des Geldes, ausgewählt worden ist, das ihm in seiner eigenen Selbstbewegung als Globalisierung gleichzeitig jegliche bewußte Beherrschung entreißt.

    Gleichwohl wirst du auch hinsichtlich dieser Meinungen verstehen lernen, daß das Gemeinte gültig sein muß, insofern es allgemein ist.

 Der Kapitän der Titanic kann also nichts anderes mehr tun, als dem Untergang Vorschriften zu machen. Treffender hat die Aussichten auch wieder der Verfasser des Buches (Robert Kurz in »Kollaps der Modernisierung«, Frankfurt am Main 1991) über den Untergang der Sowjetunion beschrieben, den ich eingangs zitiert habe:

    »So seltsam und unglaubwürdig dies für die westlichen Apostel kapitalistischer Normalität auch klingen mag (weniger unglaubwürdig vielleicht schon für die Mehrheit der Menschen in den postkatastrophalen Gesellschaften): Es ist also zu erwarten, daß die bürgerliche Welt des totalen Geldes und der modernen Ware, deren Logik die sogenannte Neuzeit mit immer aufsteigender Dynamik konstituiert hat, noch vor dem Ende des 20. Jahrhunderts in ein dunkles Zeitalter von Chaos und Zerfall gesellschaftlicher Strukturen eintritt, wie es noch niemals in der Weltgeschichte dagewesen ist.

    Der singuläre Charakter dieses den Westen als eigentlichen Urheber zuletzt einschließenden Modernisierungs-GAUs liegt zu einen in seiner weltgesellschaftlichen Dimension, zum andern in der ungeheuren Dynamik dieses Systems. Niemand kann Dauer und Verlaufsformen dieses größten historischen Krisenzeitalters voraussagen. Sicher ist jedoch, daß es kein Zurück mehr geben kann in die heute vertrauten Formen des warenproduzierenden Systems, in die die moderne Subjektivität auf allen Ebenen ihres Daseins eingeschlossen ist.«

Ende