Das Ungeheuer von Maria Laach
Von Spengler (in Asia Times Online) / (*)
»Kannst Du verhindern, daß unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?«, sagt Danton zum Henker,
während die Jakobiner in Georg Büchners Stück »Dantons Tod« aufs Schafott steigen. Die abgetrennten Köpfe im heutigen Europa küssen einander nicht, sondern beißen sich
eher am Boden des Korbes. Ich beziehe mich selbstredend auf den Ausgang des französischen Referendums über den Vorschlag eines Europäischen Verfassungsvertrages. Es gibt
kein »da« drüben in Europa, sobald Franzosen (und Niederländer und andere) beschließen nicht wirklich Europäer zu sein.
Brudermord ist nichts neues; immer dann wenn Europa zur Einigung bereit schien, wählte es stattdessen die
wechselseitige Zerstörung. Mit Maximilians Wahl zum Heiligen Römischen Kaiser 1508 kam Europa seiner Einheit am nächsten, denn durch Geschick und Glück kam seine Dynastie
zur Herrschaft über Spanien, Österreich und die Niederlande. Weniger als ein Jahrzehnt später begann Martin Luther die Reformation, und die folgenden Religionskriege zogen Europa
hinab in einen Jahrtausendabgrund. 1914 saßen Vettern ersten oder zweiten Grades auf allen Thronen Europas, kurz bevor der erste Weltkrieg Alteuropa in einem Meer von Blut ertränkte.
Man könnte versucht sein, die Verwirrung in Frankreich als eine weitere Wegmarke für den Niedergang Europas
anzusehen, besonders für jene von uns, die in Europas demographischer Todesspirale einen Verfall sehen, der nach dem des imperialen Rom schmeckt (Why Europe chooses
extinction, April 8, 2003). Doch etwas wie Selbsterhaltungsinstinkt muß die Franzosen angespornt haben, die europäische Verfassung niederzustimmen. Die
konservativen Parteien Europas widersetzen sich dem Dahinwesen des Kontinents in einem multikulturellen Gemenge, das voraussichtlich von einer wachsenden muslimischen Bevölkerung beherrscht sein wird.
Die Wahl Benedikts XVI zum Papst sollte als Katalysator dieser Tendenzen nicht unterschätzt werden. Im Verlaufe des
Jahres vor seiner Wahl äußerte er sich ablehnend gegen die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union und dagegen, daß Europa sein kulturelles Erbe aufgibt.
In den ersten beiden Folgen dieser Beiträge (The pope, the
musicians and the Jews, and Why the beautiful is not the good)
habe ich zwei von Benedikt hervorgehobene Punkte betrachtet: die hebräische Bibel und das klassische Erbe der europäischen Kultur, vor allem seiner Musik. Das Problem ist,
daß Europa sowohl sein kulturelles Erbe als auch seine Juden zerstört hat, und die Werkzeuge zum Wiederaufbau sind mehr symbolisch als real. Um zu verstehen wie dies zustandekam,
ist es nützlich, den Blick auf einen bestimmten Ort und einen bestimmten Moment in der europäischen Geschichte zu lenken, nämlich zu einem Kloster im Rheinland 1933.
Das Ungeheuer von Loch Ness mag ein Fabelwesen sein, aber neben einem Kratersee in der Nähe von Trier, wo sich
die Benediktinerabtei von Maria Laach befindet, hat ein wirkliches Ungeheuer gelebt. An diesem Ort vollzog es sich, daß ein maßgebender Flügel der Institution, die einst Europas
Kultur geschaffen hatte, die neue Nazibarbarei offen umarmte. Maria Laachs Abt Ildefons Herwegen stellte 1933, nachdem Hitler die Macht übernommen hatte, fest: »Lassen Sie uns
von ganzem Herzen ›Ja‹ sagen zur neuen totalen Staatsform, die durchweg einer Inkarnation der Kirche gleichkommt. Die Kirche steht in der Welt, wie Deutschland heute in der Politik steht.«
Herwegen nahm mit offenen Armen die sogenannte Reichstheologie oder die Theologie des Deutschen Reiches auf
, zusammen mit einer Gruppe prominenter deutscher katholischer Theologen, die in Hitler »eine christliche Gegenrevolution gegen (die französische Revolution von) 1789« sahen.
In mancher Hinsicht ist die gesamte Laufbahn Joseph Ratzingers, nun Benedikt XVI, der Zurückweisung und
Wiedergutmachung dieses verheerenden Fehlers gewidmet, den auch Herwegen selber erkannte, als sich der Naziterror ausbreitete.
Linkskatholiken haben eine kleine Industrie über der Behauptung eingerichtet, daß der konservative Flügel der
Kirche Verbindungen zu Hitler hatte. Jahrelang wurde Dreck gegen Pius XII, den unglückseligen Papst der Kriegsjahre geschleudert, um ihn einer schwereren Schuld als der bloßen
Furchtsamkeit im Angesicht der Nazibesatzer zu überführen. James Carrolls Bestseller »Das Schwert Konstantins - Die Kirche und die Juden« findet den Schurken eher in dem
elenden Herwegen, doch muß er zugleich zu seiner Verwirrung entdecken, daß er mehr mit den für Hitler eingenommenen Benediktinern von 1933 gemeinsam hat als mit der
gegenwärtigen Kirchenführung. Wie Carroll berichtet, hatte die »Liturgiebewegung« der zwanziger Jahre die Beteiligung der Gemeindeversammlung an der Messe eingeführt, das heißt
sie hatte das »Volk Gottes« (wer immer an der Versammlung teilnahm) zum Handelnden gemacht. Carroll stimmt dem bei und erklärt: »Wir wohnen der Messe nicht mehr als eine
Ansammlung Isolierter bei, ein jeder oder eine jede auf den Knieen, das Gesicht in Händen vergraben, von denen ein Rosenkranz baumelt. Wir nähern uns Gott nicht allein, sondern
als Glieder einer betenden Gemeinschaft, als Glieder eines »Volkes«. Benedikt XVI verwirft die Messe des »Volkes« mit der einfachen Begründung, daß Gott, statt des »Volkes«, der
Handelnde in der Messe ist. (So auch in der Predigt während der Messe auf dem Kölner Marienfeld. SvZ).
In Amerika, wo es kein »Volk« gibt, erscheint Carrolls Vorstellung lediglich banal. In Europa, wo das heidnische Volk
in einer Koexistenz des Unbehagens mit der Christenheit gleichzeitig fortgedauert hat, erhielt die Liturgie des Volkes eine völkische Prägung, das heißt einen national-rassischen
Ausdruck. Die katholische Kirche hat ein Jahrtausend lang Welle um Welle barbarischer Eindringlinge bekehrt; wie ich anderswo betont habe, lag ihr Genius in der Anverwandlung
heidnischer Heiliger und Bräuche als eines Katalysators für die Christianisierung. Im günstigsten Falle trug das der Kirche die prekäre Oberhand über unruhige heidnische Überbleibsel ein,
die sie sich mit Hilfe der Doppelherrschaft von Kirche und Reich vom Leibe halten konnte.
Carroll ist ein Bostoner Journalist und ihm fehlen die Proseminarkenntnisse zum Verständnis sowohl der deutschen
als auch der Kirchengeschichte. Er hält den Stückeschreiber Bertolt Brecht für einen Juden. Dennoch stellt er die richtige Frage:
»Unser Interesse an der Reichstheologie geht über die
Bedeutung hinaus, die sie als eine der Quellen für die katholische Anpassung an den Nazismus hat. Tatsächlich beschäftigt uns weniger, warum die Kirche zur Opposition
gegen den Nazismus unvermögend war, als vielmehr, wodurch es möglich wurde, daß der Nazismus in die grundlegenden Strömungen der christlichen Vorstellungen Eingang fand.«
Aber Carroll legt keinen besseren Schluß nahe als daß Panik über die Bedrohung durch den Bolschewismus Herwegen und
die ihm Gleichgesinnten den Nazis in die Arme trieb. Die Linke hat es versäumt, eine zwingende Verbindungslinie zwischen dem Nazismus und der Kirche zu ziehen; aber ich werde eine
solche Verbindung aufzeigen und bin mir dabei dessen voll bewußt, daß diese Enthüllung die Empfindlichkeit vieler alter Freunde schwer verletzen wird. Ich habe über diese
Angelegenheit jahrzehntelang geschwiegen, aber wir haben einen Punkt erreicht, an dem es für das Abendland nur noch eine letzte, geringe Chance zur Umkehr gibt. Ich will
geradewegs damit herausrücken und es klipp und klar aussprechen: In Reaktion auf die französische Revolution erfand die katholische Kirche die Methoden der Geschichtsfälschung, welche die Nazis mit solch
erschreckendem Erfolg anwendeten. Die Kirche hat dieses Ungeheuer weder geschaffen noch es zu schaffen gewünscht - wir nennen es das »Ungeheuer von Maria Laach« - doch sie
war damit unwillentlich und tragisch verschlungen. Und genau deshalb identifizierten die Phantasten des katholischen Mittelalters ihre Theologie und Liturgie mit dem Nazismus von
1933. Herwegen und seine Kollegen meinten genau, was sie sagten, und es traf genau zu.
Die Kirche hat nicht etwa ohne vorhergegangene Provokation gehandelt. Die französischen Jakobiner zerstörten die Kirche
zugunsten eines »Kultus des höchsten Wesens«, wenige Wochen bevor sich ihre Köpfe im Korb der Guillotine küßten.
Napoleon leerte die Klöster und machte Kathedralen zu Pferdeställen. Als das Heilige Römische Reich Karls des Großen
durch den österreichischen Monarchen Franz I aufgelöst wurde, waren kaum noch 3000 Mönche im ehrwürdigen Orden des Hl. Benedikt übriggeblieben. Die Antwort der Kirche
erfolgte mit all dem Geschick und all der Glut, die ihr zu Gebote stand.
Die »katholische Vorstellungswelt«, insbesondere die Form der katholischen Vorstellungen, die den Benediktinerorden
prägten, beschworen ein ansteckendes »Zeitalter des Glaubens«, das es nie gegeben hatte. Mit der Geschicklichkeit und der unermüdlichen Arbeit tausender Fachleute wurde das
fiktive Mittelalter mit dem Mummenschanz einer mittelalterlichen Kunstform ausgeschmückt, die es ebenfalls nicht gegeben hatte. Das war Zweck und Inhalt der Romantik
, romantisch, weil sie eine Welt der Ritter, Troubadoure und Priester im Interesse der katholischen Restauration halluzinierte. Die beste Darstellung dieser Scharade bleibt
immer noch die Heines, seine »Romantische Schule«.1
Weil die Kirche die Vergangenheit zu ihren Zwecken neu erfand, öffnete sie zugleich auch die Büchse der Pandora:
Wenn es der Religion gelang, eine nie dagewesene nostalgische Vergangenheit zu stiften, dann konnten die Rassisten das auch. Die Kirche hat Hitler nicht hervorgebracht
, aber die Mittel, mit denen sie eine gefälschte mittelalterliche Vergangenheit ausgesonnen hatte, machten es den Rassetheoretikern des Nazismus leicht, ihre eigene
mittelalterliche Vergangenheit auszuhecken. Wenn es durchging, ein Zeitalter des Glaubens auszusinnen, warum nicht dann auch ein goldenes Zeitalter der arischen Überlegenheit?
“Wir wissen nicht, was uns Erkenntnis verleihet; das fest verschlossene Samenkorn bedarf des feuchten, elektrischen Bodens, um zu treiben, zu denken, sich auszusprechen.
Musik ist der elektrische Boden, in dem der Geist lebt, denkt, erfindet. Philosophie ist ein Niederschlag ihres elektrischen Geistes; ihre Bedürftigkeit, die alles auf ein Urprinzip gründen will,
wird durch sie gehoben, obschon der Geist dessen nicht mächtig ist, was er durch sie erzeugt, so ist er doch glückselig in dieser Erzeugung, so ist jede echte Erzeugung der Kunst, unabhängig,
mächtiger als der Künstler selbst, kehrt durch ihre Erscheinung zum Göttlichen zurück, hängt nur darin mit dem Menschen zusammen, daß sie Zeugnis gibt von der Vermittelung des Göttlichen in
ihm.”
Beethoven zu Bettina von Arnim
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Als die Kirche begann, ein nicht dagewesenes »Zeitalter des Glaubens« nachzumachen, setzte sie die ausgetüfteltste Täuschung der Geschichte in Bewegung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte
der Benediktinerorden die aufgehobenen Klöster wiederhergestellt (einschließlich Maria Laach 1892) und die katholische Kirche umgestaltet. Die Werkzeuge dazu waren die Musik und die Liturgie.
Nur eine akademische Disziplin wurde ausschließlich für diesen besonderen Zweck der Erhaltung einer Täuschung geschaffen,
nämlich die Musikologie. Ihre Aufgabe war die »Wiederentdeckung« der verlorengegangenen, aber authentischen Musik des Mittelalters, nämlich des gregorianischen Gesanges. In der Benediktinerabtei von Solesmes,
wiederhergestellt 1832, begannen Domprobst Gueranger und seine Mönche ihr großes Unternehmen der musikalischen Paläontologie. Philologen hatten bereits darüber spekuliert, daß an der Wurzel der
Vielzahl von Sprachen in Indien, Persien und Westeuropa eine ursprüngliche indo-europäische Sprache liege. Nun suchten die benediktinischen Musikologen nach der ursprünglichen, reinen Form des
Kirchengesanges, der der Kenntnis der Kirche nach Jahrhunderten des Verfalls verlorengegangen war. 1903 proklamierte Pius X eigenhändig (motu proprio) die Arbeit der Benediktiner als
»ISTRUZIONE SULLA MUSICA SACRA« und machte damit die benediktinische Gesangsweise für alle katholischen Gottesdienste obligatorisch (vorbehaltlich besonderer Ausnahmeregelungen).
Das Problem liegt darin, daß es eine solche reine und ursprüngliche gregorianische Gesangsweise nie gegeben hat.
Es gab im Mittelalter einen chaotischen Flickenteppich von Stilen, die sich von Land zu Land, von Kloster zu Kloster und oft auch von Jahr zu Jahr unterschieden. Es gab keine
wiederzuentdeckende »reine gregorianische Überlieferung«, wie moderne Musikologen festgestellt haben.
Die romantische Rekonstruktion eines mythischen Ur-Gesangs vermengte sich mit der rassisch-nationalistischen
Suche nach den heidnischen Wurzeln der europäischen Völker. Das zeigte sich deutlich in der ersten Abhandlung über den gregorianischen Gesang, die von Don Gueranger aus Solesmes
gebilligt worden war, Augustin Gontiers »Methode raisonée de plain-chant«. Die Musikologin Katherine Bergeron berichtet dazu:
Im selben Geiste, mit dem die romantischen Philologen den
Wert so vieler verschwindender Mundarten verstanden, in deren Akzenten sie die Klänge längst verklungener Stimmen zu unterscheiden wähnten, so stellte sich Gontier vor, daß
diese nachklingenden Melodien, wie »aus dem Schiffbruch wahrer Prinzipien« gerettete Trümmer, Spuren der verlorenen gregorianischen Tradition enthielten. Was in
diesen Liedern gregorianisch war, hatte sich, so glaubte er, mit jener Art von Reinheit erhalten, die sich noch fände »bei den Völker, die seit unvordenklichen Zeiten dieselben Lieder
und dieselben Worte gesungen haben, ohne die Wohltaten irgendeiner musikalischen Ausbildung«.2
Heinrich Heine verspottete die katholischen Romantiker in einem Traumzwiegespräch mit dem deutschen Kaiser
Barbarossa (gestorben 1190), der nach der Legende nicht auf dem Kreuzzug gestorben ist, sondern sich im Kyffhäuser verborgen hält und auf das Zeichen zur Wiederherstellung
Deutschlands in seinem alten Glanz wartet. In »Deutschland, ein Wintermärchen«, bittet er Barbarossa:
Das alte Heilige Römische Reich, Stell`s wieder her, das ganze, Gib uns den modrigsten Plunder zurück Mit allem Firlifanze.
Das Mittelalter, immerhin, Das wahre, wie es gewesen, Ich will es ertragen - erlöse uns nur Von jenem Zwitterwesen,
Von jenem Kamaschenrittertum, Das ekelhaft ein Gemisch ist Von gotischem Wahn und modernem Lug, Das weder Fleisch noch Fisch ist.
Jag fort das Komödiantenpack, Und schließe die Schauspielhäuser, Wo man die Vorzeit parodiert Komme du bald, o Kaiser!«3
Die Benediktiner von Solesmes waren in ihrer Suche nach einer »authentischen« Tradition so radikal, daß sie Stabilität
der kirchlichen Tradition gefährdeten. Nachdem er die »ursprüngliche Reinheit« der Solesmer Version des Kirchengesangs übernommen hatte, verwarf Pius X die Schule
von Solesmes als Modernisten. Der katholische Musikologe Peter Wagner warnte 1904, daß die Mönche von Solesmes »Melodien erzeugen, die in dieser Form nie bestanden haben.
Die rein statistische Methode der Forschung nach der ›ältesten‹ Version kann logisch ins andere Extrem umschlagen, in die Ablehnung jeder Tradition«.4
»Durch das Auslöschen vorausgegangener Vorstellungen«, bemerkt dazu Bergeron, »wurde der Student der Gregorianik
zu einer tabula rasa, auf der die Vergangenheit in all ihrer Reinheit neu eingeschrieben werden konnte«.
Im Benediktinerkloster von Beuron unweit der deutsch-schweizerischen Grenze saßen die engsten
Korrespondenzpartner von Soresmes in Deutschland, und es waren Benediktinermönche aus Beuron, die die 1802 aufgegebene Erzabtei Maria Laach im Jahre 1892
wiederbesiedelten. Eine Generation darauf hieß Abt Herwegen nach Hitlers Machtergreifung die Nazis in einem grotesken Schauspiel willkommen, das an Mel Brooks »Frankenstein Junior« erinnert.
Allein deswegen, weil heute ein Papst amtiert, der seine Laufbahn darangesetzt hat, diese Angelegenheiten
geradezurücken, wage ich dies hier zu berichten. Die »Theologie der Ästhetik«, wie ich es in der letzten Folge dieser Reihe bezeichnet habe, »Warum das Schöne nicht das
Gute ist«, unternimmt den Versuch, die wahre Hochkultur des Abendlandes für das Christentum zurückzugewinnen. Benedikt hält selbstverständlich die Kirchenmusiktradition des
Palästrina-Stils und des gregorianischen Gesangs in Ehren, aber er richtet den Blick auf die Musik Mozarts und Bachs als Kundgebungen des Glaubens..5 Die klassische Musik des
Westens erzeugt, wie ich geschrieben habe, ein Ziel in der Zeit, das heißt eine Teleologie, die die christliche Verheißung des Lebens über das Grab hinaus sinnlich vorstellt. Dagegen
gibt es im sogenannten gregorianischen Gesang nichts besonders Christliches, außer daß die Menschen daran gewöhnt sind, es mit dem katholischen Gottesdienst in
Verbindung zu bringen, wie Weihrauch. Adepten des neuen Zeitalters, die in östlichen Religionen plantschen, bilden für Aufnahmen eintöniger Weisen die größte Zuhörerschaft, denn
ihre Zeitlosigkeit und ihr Mangel an Gerichtetheit entspricht dem Beharrungszustand ihres Bewußtseins.
Benedikt hätte recht damit, auf die Musiker zurückzugreifen - womit ich die Hochklassik Mozarts meine - wie auch auf die
Juden, das heißt auf die hebräische Bibel. Die Musiker sind tot und die Juden dahingegangen, doch der Papst muß das Blatt ausspielen, das die Geschichte ihm in die Hand gegeben hat.
Er arbeitet unter dem Zeichen des Senfkorns - der unendlich kleinen Glaubensmenge, die Berge versetzt. Der inspirierende character indelebilis der Schrift und der klassischen Musik sind
die, wenn auch angerosteten, Waffen, die er zu seiner Verfügung hat. Es glimmt noch etwas in der Asche des Westens, und Benedikt XVI könnte noch eine Flamme entfachen.
Redaktionelle Bemerkung: Die Beiträge von “Spengler”, die nicht selten deutsche Themen aufgreifen und variieren, sind allesamt
in Asia Times Online erschienen und rufen dort immer wieder rege Diskussionen hervor. Der Autor hat dem Vorschlag, gerade diesen Aufsatz zu “verdeutschen”, mit Freuden zugestimmt. Es
erübrigt sich vermutlich, die Signatur des Autors zu erläutern. Der Originaltext findet sich hier. SvZ
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